Pressemitteilung Nr. 9/2001 vom 20.02.2001

Quasistaatliche Verfolgung in Afghanistan?

Der seit Oktober 2000 für das Asylrecht zuständige 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts hat heute darüber verhandelt, ob Asylbewerbern aus Afghanistan bei ihrer Rückkehr politische Verfolgung droht. Nach der Rechtsprechung setzt politische Verfolgung im Sinne des Asylrechts (Art. 16 a Grundgesetz, § 51 Abs. 1 Ausländergesetz) voraus, dass sie von einem Staat oder einer staatsähnlichen (quasistaatlichen) Herrschaftsmacht ausgeht. Flüchtlinge aus dem seit vielen Jahren vom Bürgerkrieg heimgesuchten Afghanistan, in dem die ursprüngliche Staatsgewalt handlungsunfähig geworden ist, können daher Asyl nur erhalten, wenn feststeht, dass sich dort quasistaatliche Machtbereiche herausgebildet haben und ihnen dortVerfolgung droht. Die Existenz staatsähnlicher Herrschaftsbereiche hatte der früher zuständige 9. Senat des Bundesverwaltungsgerichts in zwei Verfahren verneint. Er hatte deswegen Urteile des Verwaltungsgerichtshofs Kassel und des Oberverwaltungsgerichts Koblenz aus den Jahren 1996 und 1997 aufgehoben, in denen afghanischen Flüchtlingen - einem ehemaligen Offizier und Bomberpiloten des 1992 gestürzten kommunistischen Regimes sowie einem früheren hohen kommunistischen Funktionär mit seiner Familie - politisches Asyl wegen quasistaatlicher Verfolgung gewährt worden war. Auf ihre Verfassungsbeschwerden hat das Bundesverfassungsgericht (1. Kammer des 2. Senats) die beiden Verfahren zur erneuten Entscheidung an das Bundesverwaltungsgericht zurückverwiesen (Beschluss vom 10. August 2000 - 2 BvR 260/98 und 1353/98 -).


Das Bundesverfassungsgericht hat die Anforderungen des Bundesverwaltungsgerichts an staatsähnliche Herrschaftsorganisationen in einem andauernden Bürgerkrieg als zu eng beanstandet. Das Bundesverwaltungsgericht habe dem Erfordernis einer dauerhaft stabilisierten Herrschaftsmacht "nach außen" - zwischen den Bürgerkriegsparteien - zu viel Gewicht beigemessen. Die Frage, ob nach dem Fortfall der bisherigen Staatsgewalt von einer Bürgerkriegspartei politische Verfolgung ausgehen könne, beurteile sich unter Berücksichtigung des Schutzzwecks des Asylrechts maßgeblich danach, ob diese "nach innen" zumindest in einem Kernterritorium ein Herrschaftsgefüge von gewisser Stabilität tatsächlich errichtet habe. Es sei nunmehr Aufgabe des Bundesverwaltungsgerichts, die Erscheinungsform der quasistaatlichen Verfolgung unter Beachtung des Verfassungsrechts begrifflich zu präzisieren. Außerdem sei erneut fachgerichtlich zu beurteilen, ob politische Verfolgung deswegen ausgeschlossen sein könnte, weil alle in Afghanistan herrschenden Machthaber zur Aufrechterhaltung ihrer militärischen Herrschaft mehr oder minder auf autonome örtliche Kommandanten angewiesen seien.


Das Bundesverwaltungsgericht hat die Verfahren zur erneuten Feststellung und Würdigung der Lage in Afghanistan anhand des geänderten Maßstabs an den Verwaltungsgerichtshof Kassel (BVerwG 9 C 20.00) und an das Oberverwaltungsgericht Koblenz (BVerwG 9 C 21.00) zurückverwiesen. Es hat ausgeführt: Maßgeblich ist nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in erster Linie die Beschaffenheit des Herrschaftsgefüges im Innern des beherrschten Gebietes. Hierzu bedarf es der Feststellung und Bewertung, ob eine übergreifende Friedensordnung mit einem prinzipiellen Gewaltmonopol existiert, die von einer hinreichend organisierten, effektiven und stabilen Gebietsgewalt in einem abgrenzbaren (Kern-)Territorium getragen wird. Äußere Gefährdungen sind nur dann bedeutsam, wenn sie die Herrschaft nachhaltig in Frage stellen. Je länger sich ein Machtgebilde hält, desto eher muss es als dauerhafte, zu politischer Verfolgung fähige Gebietsgewalt angesehen werden. Allein wegen eines andauernden Bürgerkriegsgeschehens kann die Annahme politischer Verfolgung nicht praktisch auf unabsehbare Zeit ausgeschlossen sein.


Zur Beantwortung der weiteren Frage, ob Bedrohungen der Herrschaft im Innern die Annahme staatsähnlicher Gewalt ausschließen, kommt es darauf an, ob und wie viele autonome oder nicht befriedete Gebiete es gibt, die sich dem Zugriff der Herrschaftsorganisation entziehen. Ob solche Herrschaftsexklaven die Territorialgewalt in Frage stellen, ist prognostisch zu bewerten. Die Fähigkeit, Konflikte über längere Zeit zumindest zu begrenzen, kann ausreichen, um gleichwohl hinreichend stabile Verhältnisse anzunehmen. Nicht entscheidend sind dagegen auch insoweit die Legitimität der Machtausübung, deren Akzeptanz durch alle oder eine Mehrheit der Gewaltunterworfenen, die Willkürfreiheit der Herrschaft oder die Beachtung eines menschenrechtlichen Mindeststandards. Das alles kann letztlich nicht nach abstrakten rechtlichen Begriffen vom Revisionsgericht entschieden, sondern nur aufgrund einer Gesamtbetrachtung aller Umstände tatrichterlich wertend beurteilt werden. Die bisherigen Feststellungen der Berufungsgerichte aus den Jahren 1996/97 reichen nicht aus, um anhand des präzisierten rechtlichen Maßstabs zu beurteilen, ob in Afghanistan zu politischer Verfolgung fähige quasistaatliche Herrschaftsgefüge existieren.


Das Bundesverwaltungsgericht hat die Verfahren daher zur erneuten Beurteilung an die Berufungsgerichte zurückverwiesen. Die Berufungsgerichte werden die Asylklagen nach diesen Vorgaben noch einmal überprüfen. Dabei müssen sie auch die inzwischen geänderte Lage in Afghanistan berücksichtigen. Dazu gehört insbesondere, dass sich in Afghanistan nur noch zwei Machtblöcke gegenüberstehen - die Taliban (Taleban) in 85% bis 95% des 650.000 Quadratkilometer großen Staatsgebiets und die sog. Nordallianz im restlichen Gebiet. Sollte der Machtbereich der Taliban heute als quasistaatliche Herrschaftsorganisation anzusehen sein, wird das Oberverwaltungsgericht Koblenz gegebenenfalls zusätzlich prüfen müssen, ob den an diesem Verfahren beteiligten Frauen bei einer Rückkehr politische Verfolgung durch die fundamentalistischen Taliban auch wegen ihres Geschlechts droht. Die Kläger beider Verfahren haben bereits rechtskräftig ausländerrechtlichen Abschiebungsschutz nach § 53 AuslG erhalten. Sie müssen daher unabhängig vom Ausgang des Streits um ihre Asylberechtigung nicht mit einer - derzeit in Deutschland ohnehin faktisch ausgesetzten - Abschiebung nach Afghanistan rechnen. In drei weiteren Verfahren afghanischer Asylbewerber hat das Bundesverwaltungsgericht Asyl versagende neuere Urteile des Oberverwaltungsgerichts Münster aufgehoben, die eine quasistaatliche Verfolgung noch auf der Grundlage der vom Bundesverfassungsgericht beanstandeten früheren Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts verneint hatten. Auch diese Verfahren wurden zur erneuten Entscheidung zurückverwiesen.


BVerwG 1 C 30.00 - Urteil vom 20.02.2001

BVerwG 1 C 31.00 - Urteil vom 20.02.2001

BVerwG 1 C 32.00 - Urteil vom 20.02.2001