Verfahrensinformation

Die Fremdenverkehrsgemeinde Wangerland erhebt von ortsansässigen Selbständigen und Unternehmern, die durch den Fremdenverkehr wirtschaftliche Vorteile erlangen können, per Satzung Fremdenverkehrsbeiträge. Die Beiträge werden dazu verwendet, die Kosten der Gemeinde für die Fremdenverkehrswerbung sowie für den Unterhalt von Fremdenverkehrseinrichtungen zu decken. Der Kläger, ein ortsansässiger Hotelier, hält die Beitragssatzung unter anderem deshalb für nichtig, weil die Gemeinde sie rückwirkend in Kraft gesetzt hat. Die beklagte Gemeinde hält dem entgegen, der Kläger habe bereits zum Zeitpunkt der Inkraftsetzung mit einer Beitragserhebung rechnen müssen.


Urteil vom 26.02.2003 -
BVerwG 9 CN 2.02ECLI:DE:BVerwG:2003:260203U9CN2.02.0

Leitsatz:

Dem Vertrauensschutz gegenüber der rückwirkenden Neueinführung eines Fremdenverkehrsbeitrags wird nicht bereits durch den Aufstellungsbeschluss zum Erlass der Beitragssatzung nach § 9 Abs. 3 NdsKAG die Grundlage entzogen.

Urteil

BVerwG 9 CN 2.02

  • OVG Lüneburg - 26.02.2002 - AZ: OVG 9 K 2694/99 -
  • Niedersächsisches OVG - 26.02.2002 - AZ: OVG 9 K 2694/99

In der Normenkontrollsache hat der 9. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 26. Februar 2003
durch den Präsidenten des Bundesverwaltungsgerichts
H i e n und die Richter am Bundesverwaltungsgericht
V a l l e n d a r , Prof. Dr. R u b e l ,
Dr. E i c h b e r g e r und G a t z
für Recht erkannt:

  1. Das Urteil des Oberverwaltungsgerichts Lüneburg vom 26. Februar 2002 wird aufgehoben, soweit der Antrag abgelehnt worden ist, § 11 der Fremdenverkehrsbeitragssatzung der Antragsgegnerin vom 28. Dezember 1998 für nichtig zu erklären.
  2. § 11 der Fremdenverkehrsbeitragssatzung der Antragsgegnerin vom 28. Dezember 1998 wird für nichtig erklärt.
  3. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Revisionsverfahrens und 1/5 der Kosten des Beschwerdeverfahrens. In Abänderung der Kostenentscheidung in dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts Lüneburg vom 26. Februar 2002 trägt der Antragsteller 4/5, die Antragsgegnerin 1/5 der Kosten des erstinstanzlichen Verfahrens.

I


Der Antragsteller wendet sich mit einem Normenkontrollantrag gegen die Fremdenverkehrsbeitragssatzung, die von der Antragsgegnerin am 28. Dezember 1998 beschlossen und am 5. Januar 1999 in deren Amtsblatt veröffentlicht worden ist. Als Inhaber eines im Erhebungsgebiet gelegenen Hotel- und Gaststättenbetriebs möchte er nicht zu einem Fremdenverkehrsbeitrag herangezogen werden, insbesondere nicht rückwirkend für das Jahr 1998.
Das Normenkontrollgericht hat seinen Antrag, die Fremdenverkehrsbeitragssatzung für nichtig zu erklären, abgelehnt und ausgeführt, die von ihm gerügten Rechtsverstöße lägen nicht vor. Die Antragsgegnerin sei insbesondere nicht gehindert gewesen, die Satzung gemäß ihrem § 11 rückwirkend auf den 1. Januar 1998 in Kraft zu setzen. Der Fall einer echten Rückwirkung liege nicht vor, weil die Satzung nicht nachträglich ändernd in abgewickelte, der Vergangenheit angehörende Tatbestände eingreife. Im Fall der unechten Rückwirkung, der hier vorliege, weil die Satzung noch vor dem Ende des Veranlagungszeitraums 1998 am 28. Dezember 1998 erlassen worden sei, stehe ein schutzwürdiges Vertrauen der Beitragserhebung schon deswegen nicht entgegen, weil die Beitragspflichtigen spätestens seit November 1997 durch die mit einem Anschreiben versehene Versendung eines Erhebungsbogens gewusst hätten, dass die Antragsgegnerin sie zukünftig zu Fremdenverkehrsbeiträgen habe veranlagen wollen.
Gegen dieses Urteil richtet sich die vom Senat nur in beschränktem Umfang zugelassene Revision des Antragstellers. Er trägt im Wesentlichen vor, dass entgegen der Auffassung des Normenkontrollgerichts ein Verstoß gegen das Verbot der echten Rückwirkung anzunehmen sei.
Der Antragsteller beantragt,
das Urteil des Oberverwaltungsgerichts Lüneburg vom 26. Februar 2002 aufzuheben, soweit der Antrag abgelehnt worden ist, § 11 der Fremdenverkehrsbeitragssatzung vom 28. Dezember 1998 für nichtig zu erklären.
Die Antragsgegnerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie ist der Auffassung, das Normenkontrollgericht habe zumindest im Ergebnis die Rückwirkung zutreffend als zulässig erachtet. Infolge des von ihr am 30. September 1997 gefassten Aufstellungsbeschlusses, der nach § 9 Abs. 3 NdsKAG der im November 1997 durchgeführten Erhebung zur Beitragskalkulation habe vorangehen müssen, habe sich ein schutzwürdiges Vertrauen der Beitragspflichtigen von vornherein nicht bilden können. Ein etwaiges Vertrauen sei außerdem rechtzeitig dadurch zerstört worden, dass der Beschluss über die Satzung noch vor Ablauf des Kalenderjahres 1998 gefasst worden sei. Schließlich rechtfertigten zwingende Gründe des Gemeinwohls eine Durchbrechung des Rückwirkungsverbots, nachdem der Landkreis die Genehmigung des Haushaltsplans 1997 nur unter der Bedingung erteilt habe, dass ab 1998 Fremdenverkehrsbeiträge erhoben würden.

II


Die Revision des Antragstellers hat Erfolg.
Das Urteil des Normenkontrollgerichts konnte keinen Bestand haben, soweit der Antrag abgelehnt worden ist, § 11 der Fremdenverkehrsbeitragssatzung für nichtig zu erklären. Das angefochtene Urteil beruht insoweit auf einer Verletzung von Bun-
desrecht (vgl. § 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Denn die Bestimmung regelt das In-Kraft-Treten der Satzung unter Verstoß gegen den aus dem Rechtsstaatsprinzip folgenden Grundsatz, dass die Anordnung einer echten Rückwirkung - von hier nicht vorliegenden Ausnahmen abgesehen - unzulässig ist. § 11 der Fremdenverkehrsbeitragssatzung ist deswegen mit der Folge für nichtig zu erklären, dass sich das In-Kraft-Treten der Satzung nach der Auffangvorschrift des § 6 Abs. 5 NdsGO bestimmt.
1. Wie der Senat bereits in seinem Zulassungsbeschluss vom 5. August 2002 - BVerwG 9 BN 12.02 - erläutert hat, geht die vom Normenkontrollgericht in dem angefochtenen Urteil verlautbarte Auffassung fehl, § 11 der Satzung stelle "einen Fall unechter Rückwirkung dar" (UA S. 10). Dem Normenkontrollgericht ist entgangen, dass das Bundesverfassungsgericht bei seiner Abgrenzung zwischen echter und unechter Rückwirkung nicht auf die Beschlussfassung über die Rechtsnorm abstellt. Maßgeblich ist vielmehr der Zeitpunkt, zu dem die Rechtsnorm rechtlich existent, d.h. gültig geworden ist. Auch eine kommunale Satzung wird nicht bereits mit der Beschlussfassung des Gemeinderats gültig, sondern frühestens mit ihrer öffentlichen Bekanntmachung (vgl. hier § 6 Abs. 3 Satz 1 NdsGO). Letztere hat nach den Feststellungen des Normenkontrollgerichts (UA S. 9) hier erst am 5. Januar 1999 stattgefunden. Mithin hat die Satzung den Beginn ihres zeitlichen Anwendungsbereichs in § 11 auf einen Zeitpunkt festgelegt, der vor dem Zeitpunkt liegt, zu dem die Satzung rechtlich existent geworden ist. Die Rechtsfolgen der Satzung sollen danach insgesamt bereits vor dem Zeitpunkt ihrer Bekanntmachung eintreten. Dies ist ein Fall der echten Rückwirkung oder - wie das Bundesverfassungsgericht ebenfalls formuliert - der Rückbewirkung von Rechtsfolgen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 14. Mai 1986 - 2 BvL 2/83 - BVerfGE 72, 200 <242>).
2. Eine Regelung mit echter Rückwirkung lässt das Rechtsstaatsprinzip nur in sehr engen Grenzen zu. Denn zu den Grundlagen des Rechtsstaats zählt die Rechtssicherheit, die das Vertrauen der Bürger in die geltende Rechtsordnung schützt. Insbesondere Abgabengesetze, die in schon abgewickelte, der Vergangenheit angehörende Tatbestände eingreifen, sind deswegen nur insoweit zulässig, als der Vertrauensschutz ausnahmsweise keinen Vorrang beansprucht. In dem Vertrauensschutz findet das Rückwirkungsverbot somit nicht nur seinen Grund, sondern auch seine Grenze.
Zu den Grenzen des Vertrauensschutzes im Abgabenrecht hat das Bundesverfassungsgericht eine umfangreiche Kasuistik entwickelt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 14. Mai 1986 - 2 BvL 2/83 - a.a.O., S. 249 ff.; Beschluss vom 3. Dezember 1997 - 2 BvR 882/97 - BVerfGE 97, 67 <80 ff.>; Beschluss vom 5. Februar 2002 - 2 BvR 305, 348/93 - BVerfGE 105, 17 <36 ff.>), die in ihren Einzelheiten nicht dargestellt zu werden braucht (Überblick z.B. bei Spindler, DStR 1998, 953 <955 ff.>). Denn jedenfalls bei der Neueinführung einer Abgabe - wie sie hier in Rede steht - muss der Abgabepflichtige im Allgemeinen nicht damit rechnen, dass er rückwirkend veranlagt wird.
Deswegen hilft nicht der von der Antragsgegnerin geäußerte Gedanke weiter, der Satzungsbeschluss sei noch vor Ablauf des Kalenderjahres 1998 - nämlich am 28. Dezember 1998 - zustande gekommen. Zwar ist der Antragsgegnerin darin zu folgen, dass bereits durch diesen in öffentlicher Sitzung gefassten Satzungsbeschluss die Rechtfertigung für einen weiteren Vertrauensschutz entfiel. Denn das Bundesverfassungsgericht sieht - parallel dazu - bei Bundesgesetzen den Beschluss des Bundestages (vgl. BVerfG, Beschluss vom 14. Mai 1986 - 2 BvL 2/83 - a.a.O., S. 262) bzw. auch des Bundesrates (vgl. BVerfG, Beschluss vom 7. Juli 1992 - 2 BvR 1631, 1728/90 - BVerfGE 87, 48 <61>) als entscheidend dafür an, dass der wesentliche - wenn auch nicht der einzige und nicht der letzte - Unsicherheitsfaktor für das "Ob" und das "Wie" der Neuregelung entfällt. Maßgeblich ist dafür der Gedanke, dass von diesem Zeitpunkt an das zu erwartende Ergebnis des Gesetzgebungsverfahrens "offen zu Tage" liegt und "von jedem zur Kenntnis genommen werden" kann. Im vorliegenden Fall ergibt sich aus dieser Überlegung aber nicht, dass dem Vertrauensschutz auch bereits vor dem 28. Dezember 1998 die Grundlage entzogen war.
Soweit die Antragsgegnerin unter Hinweis auf § 5 Abs. 2 der Satzung meint, der Vertrauensschutz sei für den gesamten Veranlagungszeitraum 1998 entfallen, weil der Fremdenverkehrsbeitrag erst mit Ablauf dieses Kalenderjahres und damit nach dem Beschlusszeitpunkt entstanden sei, ist dem nicht zu folgen. Zwar wird etwa im Einkommensteuerrecht aus dem Grundsatz der Jahresbezogenheit gefolgert, dass die Abgabenpflichtigen noch bis zum Ablauf des Veranlagungszeitraums mit nachteiligen Änderungen rechnen müssen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 14. Mai 1986 - 2 BvL 2/83 - a.a.O., S. 252 ff.). Diese Einschränkung des Vertrauensschutzes greift aber nur bei Änderungen einer Abgabe durch, die in der Vergangenheit bereits erhoben wurde. Zumindest dann, wenn die neu eingeführte Abgabe für die Abgabenpflichtigen typischerweise abwälzbar sein soll, kann dem Vertrauensschutz nicht in der von der Antragsgegnerin vorgeschlagenen Weise nachträglich die Grundlage entzogen werden. Das Normenkontrollgericht hat den von der Antragsgegnerin erhobenen Fremdenverkehrsbeitrag als eine abwälzbare Abgabenform eingestuft. Denn bei der Frage, ob der Beitrag "erdrosselnde" Wirkung hat, hat das Normenkontrollgericht dem Antragsteller die Möglichkeit, die Mehrkosten "in seine Preiskalkulation einzustellen", ausdrücklich entgegengehalten (UA S. 11). Diese den Beitrag abwälzende Preiskalkulation ist nicht mehr zu bewerkstelligen, wenn der Beitrag erst mit dem Jahresende rückwirkend auf das gesamte Kalenderjahr eingeführt wird.
Eine weitergehende Einschränkung des Vertrauensschutzes ergibt sich entgegen der Ansicht der Antragsgegnerin auch nicht aus dem Aufstellungsbeschluss vom 30. September 1997 und der anschließenden Erhebung, die im November 1997 stattgefunden hat. Dieses Vorgehen der Antragsgegnerin fand seine Grundlage in der Vorschrift des § 9 Abs. 3 NdsKAG, wonach eine Auskunftspflicht der potenziell Beitragspflichtigen (vgl. § 9 Abs. 2 NdsKAG) "schon vor Erlass der Satzung" entsteht, wenn der Rat beschließt, eine Fremdenverkehrsbeitragssatzung zu erlassen. Dabei geht es darum, von den potenziell Beitragspflichtigen vorweg die Auskünfte zu erlangen, "die zur Beurteilung ihrer Beitragspflicht und zur Schaffung der Bemessungsgrundlagen" notwendig sind. Ziel der gesetzlichen Regelung ist es nicht, später eine rückwirkende Neueinführung der Beitragspflicht zu rechtfertigen. Insofern bewegt sich die Gemeinde, wenn sie nach § 9 Abs. 3 NdsKAG verfährt, auf der Ebene, die im staatlichen Bereich ihre Parallele in der Vorbereitung einer gesetzlichen Neuregelung hat. Derartige Vorbereitungen (Kabinettsbeschlüsse, Einbringung von Gesetzentwürfen usw.) hat das Bundesverfassungsgericht gerade nicht ausreichen lassen, um den Vertrauensschutz entfallen zu lassen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 14. Mai 1986 - 2 BvL 2/83 - a.a.O., S. 261). In diesem Zusammenhang mag zu erwähnen sein, dass es bis zum Satzungsbeschluss vom 28. Dezember 1998 ungewiss war, ob eine Fremdenverkehrsbeitragssatzung zustande kommen würde. Noch durch Beschluss vom 15. Dezember 1998 war auf der Grundlage einer kontroversen Diskussion ein Satzungsbeschluss im Gemeinderat mehrheitlich abgelehnt worden.
Schließlich kann die Antragsgegnerin dem Vertrauensschutz nicht mit Erfolg unter Berufung auf zwingende Gründe des Gemeinwohls entgegentreten (zu diesem Rechtfertigungsgrund vgl. BVerfG, Beschluss vom 14. Mai 1986 - 2 BvL 2/83 - a.a.O., S. 260 m.w.N.). Bei der Neueinführung eines Fremdenverkehrsbeitrags geht es nicht um die Beseitigung von Missständen, die sich in Ausnutzung der bisherigen Gesetzeslage entwickelt haben, so dass den Abgabenpflichtigen eine im Grunde nicht gerechtfertigte Vergünstigung entzogen wird (vgl. dazu BVerfG, Beschluss vom 3. Dezember 1997 - 2 BvR 882/97 - a.a.O., S. 82 f.). Die Erhebung des Fremdenverkehrsbeitrags soll vielmehr lediglich zu einer - wenn auch von der Kommunalaufsicht geforderten - finanziellen Entlastung des Gemeindehaushalts führen. Im Verhältnis zum Gesamtvolumen des Haushalts ist der Einnahmeausfall, der für das Jahr 1998 von der Antragsgegnerin unvermeidlich hingenommen werden muss, begrenzt und geringfügig. Der Vertrauensschutz, den das Rechtsstaatsprinzip fordert, muss unter diesen Gegebenheiten dem fiskalischen Interesse vorgehen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 23. März 1971 - 2 BvL 2/66 u.a. - BVerfGE 30, 367 <391>).
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1, § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO.