Verfahrensinformation

Verzieht ein Sozialhilfeempfänger vom Ort seines bisherigen Aufenthalts, so ist gemäß § 107 BSHG der Sozialhilfeträger des bisherigen Aufenthalts verpflichtet, dem nunmehr örtlich zuständigen Träger die Kosten der dort weiterhin erforderlichen Hilfe zu erstatten. Die revisionsgerichtlich zu klärende Frage ist, ob diese Kostenerstattungspflicht weiterhin besteht, wenn der Sozialhilfeempfänger noch einmal im Gebiet des neu zuständig gewordenen Sozialhilfeträgers an einen anderen Ort im Landkreis umzieht.


Urteil vom 06.02.2003 -
BVerwG 5 C 15.02ECLI:DE:BVerwG:2003:060203U5C15.02.0

Leitsatz:

Die infolge Umzugs des Hilfeempfängers in den Zuständigkeitsbereich eines anderen örtlichen Trägers der Sozialhilfe entstandene Kostenerstattungspflicht des bisher zuständigen Sozialhilfeträgers wird durch einen erneuten Umzug des Hilfeempfängers innerhalb des Zuständigkeitsbereichs des nunmehr zuständigen örtlichen Trägers nicht beendet.

  • Rechtsquellen
    BSHG § 107

  • VG Neustadt a. d. Weinstraße - 15.02.2002 - AZ: VG 4 K 2260/01.NW

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Urteil vom 06.02.2003 - 5 C 15.02 - [ECLI:DE:BVerwG:2003:060203U5C15.02.0]

Urteil

BVerwG 5 C 15.02

  • VG Neustadt a. d. Weinstraße - 15.02.2002 - AZ: VG 4 K 2260/01.NW

In der Verwaltungsstreitsache hat der 5. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 6. Februar 2003
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht
Dr. S ä c k e r und die Richter am Bundesverwaltungs-
gericht S c h m i d t , Dr. R o t h k e g e l ,
Dr. F r a n k e und Prof. Dr. B e r l i t
für Recht erkannt:

  1. Das Urteil des Verwaltungsgerichts Neustadt an der Weinstraße vom 15. Februar 2002 wird aufgehoben. Der Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger die Kosten der für Frau S. und deren Tochter B. in der Zeit vom 1. Januar 2000 bis 25. März 2001 geleisteten Sozialhilfe in Höhe von 7 442,35 € (entspricht 14 555,97 DM) nebst 4 % Zinsen seit dem 22. Oktober 2001 zu erstatten.
  2. Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.

I


Der Kläger nimmt den Beklagten auf Erstattung der Kosten von Hilfe zum Lebensunterhalt in Höhe von 7 442,36 € (entspricht 14 555,97 DM) in Anspruch, die er Frau S. und ihrer minderjährigen Tochter in der Zeit vom 1. Januar 2000 bis zum 25. März 2001 geleistet hat.
Frau S. war mit ihrer Tochter am 25. März 1999 aus dem Zuständigkeitsbereich des Beklagten in den Zuständigkeitsbereich des Klägers nach L. verzogen. Dort erhielten sie vom Kläger ab dem 26. März 1999 Hilfe zum Lebensunterhalt, deren Kosten der Beklagte bis zum 31. Dezember 1999 erstattete. Über diesen Zeitpunkt hinaus lehnte der Beklagte eine Kostenerstattung jedoch ab, weil Frau S. und ihre Tochter am 1. Januar 2000 von L. nach K. umgezogen waren; auch K. liegt im Zuständigkeitsbereich des Klägers.
Das Verwaltungsgericht hat durch Urteil vom 15. Februar 2002 die Klage unter Bezugnahme auf einen Beschluss des Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz vom 8. Februar 2000 (FEVS 52, 232) und unter Zulassung der Revision abgewiesen und dies damit begründet, die Kostenerstattungspflicht des Beklagten aus § 107 BSHG habe mit dem Umzug der Hilfeempfänger von L. nach K. geendet; die Vorschrift setze keinen sozialhilferechtlichen Zuständigkeitswechsel voraus, es genüge, dass eine Person vom "Ort" ihres bisherigen gewöhnlichen Aufenthalts verziehe.
Hiergegen richtet sich die Sprungrevision des Klägers, der seinen Anspruch auf Kostenerstattung (zuzüglich 4 % Prozesszinsen) weiterverfolgt.
Der Beklagte tritt der Revision entgegen.

II


Die nach § 134 Abs. 1 VwGO zulässige Revision ist begründet. Das Urteil des Verwaltungsgerichts verletzt Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO), so dass es aufzuheben und der Klage in dem in die Revision gelangten Umfang stattzugeben ist (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 VwGO).
Die Ansicht des Verwaltungsgerichts, eine infolge Umzugs des Hilfeempfängers entstandene Kostenerstattungspflicht nach § 107 BSHG ende, wenn der Hilfeempfänger innerhalb des Bereichs des für den Zuzugsort zuständigen örtlichen Trägers der Sozialhilfe erneut umziehe, ist mit Bundesrecht unvereinbar.
Nach § 107 Abs. 1 BSHG ist, wenn eine Person vom Ort ihres bisherigen gewöhnlichen Aufenthalts verzieht, der Träger der Sozialhilfe des bisherigen Aufenthaltsortes verpflichtet, dem nunmehr zuständigen örtlichen Träger der Sozialhilfe die dort erforderlich werdende Hilfe außerhalb von Einrichtungen im Sinne des § 97 Abs. 2 Satz 1 BSHG zu erstatten, wenn die Person innerhalb eines Monats nach dem Aufenthaltswechsel der Hilfe bedarf. Diese Voraussetzungen sind hier - entgegen der Rechtsansicht des Verwaltungsgerichts - nicht nur bis zum Zeitpunkt des Umzugs von Frau S. und ihrer Tochter von L. nach K., sondern auch nach deren erneutem Umzug innerhalb des örtlichen Zuständigkeitsbereichs des Klägers erfüllt gewesen. Dieser Umzug hat den Kostenerstattungsanspruch des Klägers gegen den Beklagten aus § 107 Abs. 1 BSHG nicht berührt; denn der Kläger ist auch weiterhin der "nunmehr zuständige örtliche Träger der Sozialhilfe" im Sinne jener Bestimmung und damit erstattungsberechtigt geblieben.
Ein erneuter Kostenerstattungsfall nach § 107 Abs. 1 BSHG entsteht nicht, wenn der erneute Umzug nicht mit einem Trägerwechsel verbunden ist. Schon aus dem Wortlaut des Gesetzes, das von "dem nunmehr zuständigen örtlichen Träger der Sozialhilfe" als dem erstattungsberechtigten Träger spricht, geht hervor, dass ein den Erstattungsanspruch beendender Ortswechsel nur vorliegt, wenn dadurch die Zuständigkeit eines neuen - nunmehr dritten - örtlichen Trägers der Sozialhilfe begründet wird. Zwar ist das Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz (Beschluss vom 8. Februar 2000 - 12 A 11825/99 - <FEVS 52, 232>), auf dessen entgegengesetzten Standpunkt sich die Vorinstanz beruft, der Ansicht, dem Gesetzeswortlaut sei das Erfordernis eines Trägerwechsels nicht zu entnehmen, weil die Gegenüberstellung des für den bisherigen Aufenthaltsort zuständigen und des für den neuen Aufenthaltsort "nunmehr" zuständigen Trägers "nicht auf der die Erstattungsvoraussetzungen benennenden Tatbestandsseite, sondern der die Kostenpflicht begründende Rechtsfolgenseite" stattfinde (a.a.O., S. 233). Diese Auslegung überzeugt indessen nicht. Sie lässt unberücksichtigt, dass das Gesetz mit seiner die Rechtsfolgenseite betreffenden Wortwahl darauf hindeutet, dass auf der Tatbestandsseite ein Trägerwechsel stillschweigend vorausgesetzt ist. Nur so macht § 107 Abs. 1 BSHG als Bestandteil der Regelungen über einen Lastenausgleich der Sozialhilfeträger untereinander (vgl. die Überschrift des Abschnitts 9 "Kostenerstattung zwischen den Trägern der Sozialhilfe") Sinn.
Der Standpunkt des Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz, auf den die Vorinstanz sich stützt, ist auch nicht rechtlich geboten, weil § 107 Abs. 1 BSHG nach seinem Wortlaut ein Verziehen vom "Ort", nicht dagegen aus dem "Gebiet" des bisherigen gewöhnlichen Aufenthalts voraussetzt. Unabhängig davon, wie eng oder weit der Begriff des "Ortes" in § 107 BSHG zu verstehen und ob auch hier wie z.B. gemäß § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I begrifflich zwischen "Ort" und "Gebiet" zu unterscheiden ist, setzt die Erfüllung des Tatbestandes der Vorschrift - wie dargelegt - als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal voraus, dass der Hilfeempfänger in den Zuständigkeitsbereich eines anderen örtlichen Sozialhilfeträgers verzieht. Darum führt nicht schon jeder Ortswechsel, sondern erst ein Wechsel des örtlichen Zuständigkeitsbereichs des jeweiligen Sozialhilfeträgers zu einem Kostenerstattungsfall nach § 107 Abs. 1 BSHG bzw. beendet diesen gegebenenfalls unter Auslösung eines neuen Erstattungsfalles.
Das Verwaltungsgericht hätte den Beklagten nach alledem für die innerhalb des Zeitraumes des § 107 Abs. 2 BSHG liegende Zeit, in der Frau S. und ihre Tochter vom Kläger Hilfe zum Lebensunterhalt bezogen haben, zur Erstattung der Kosten dieser Hilfeleistung nach § 107 Abs. 1 BSHG verurteilen und entsprechend §§ 288, 291 BGB dem Kläger auch Prozesszinsen (vgl. dazu BVerwGE 111, 213 <219>) zusprechen müssen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Auf Grund von § 194 Abs. 5 in Verbindung mit § 188 Satz 2 zweiter Halbsatz VwGO in der Fassung des Gesetzes zur Bereinigung des Rechtsmittelrechts im Verwaltungsprozess (RmBereinVpG) vom 20. Dezember 2001 (BGBl S. 3987) ist die Gerichtskostenfreiheit für Erstattungsstreitigkeiten zwischen Sozialleistungsträgern für das nach dem 1. Januar 2002 anhängig gewordene Revisionsverfahren entfallen.
Dr. Säcker Schmidt Dr. Rothkegel