Verfahrensinformation

In dem Verfahren wird darüber gestritten, welche Behörde in Baden-Württemberg dafür zuständig ist, straffällig gewordene Unionsbürger des Landes zu verweisen. Kläger ist ein 57-jähriger Italiener, der sich seit 1972 in Deutschland aufhält, mit einer Deutschen verheiratet ist und zwei Töchter hat. Der Kläger wurde wegen Anstiftung zur Körperverletzung mit Todesfolge zu einer mehrjährigen Freiheitsstrafe verurteilt, die er derzeit verbüßt. Das örtlich zuständige Regierungspräsidium Karlsruhe hat den Kläger aufgrund dieser Straftat der Sache nach ausgewiesen (sog. Verlustfeststellung). Der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg hat diesen Bescheid aufgehoben, weil das Regierungspräsidium hierfür sachlich nicht zuständig gewesen sei. Die Zuständigkeitsverordnung des Landes, die diese Zuständigkeit vorsehe, sei mangels gesetzlicher Ermächtigung nichtig. Hiergegen wendet sich das Land Baden-Württemberg mit der Revision und macht geltend, eine Ermächtigungsgrundlage ergebe sich aus dem Aufenthaltsgesetz des Bundes (§ 71 AufenthG).


Pressemitteilung Nr. 53/2011 vom 28.06.2011

Zuständigkeitsregelung in Baden-Württemberg für Aufenthaltsbeendigung bei Unionsbürgern wirksam

Das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig hat heute entschieden, dass die nur in Baden-Württemberg geltende Zuständigkeitskonzentration bei den Regierungspräsidien für die Aufenthaltsbeendigung von Unionsbürgern (sog. Verlustfeststellung) rechtlich nicht zu beanstanden ist.


Der Entscheidung liegt der Fall eines italienischen Staatsangehörigen zugrunde, der seit 1972 in Deutschland lebt, mit einer deutschen Staatsangehörigen verheiratet war und aus dieser Ehe zwei Töchter hat. 2005 wurde er zu einer 10-jährigen Freiheitsstrafe verurteilt. Das Regierungspräsidium Karlsruhe hat die Verurteilung zum Anlass genommen, den Verlust seines Rechts auf Aufenthalt in Deutschland festzustellen.


Das Verwaltungsgericht Karlsruhe und der Verwaltungsgerichtshof Mannheim haben der Klage gegen die Verlustfeststellung stattgegeben. Der Verwaltungsgerichtshof hat dies damit begründet, dass das Regierungspräsidium für die Entscheidung nicht zuständig sei. Die baden-württembergische Zuständigkeitsverordnung sei insoweit unwirksam. Sie sei auf § 71 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) gestützt. Diese Vorschrift erlaube zwar eine ausländerbehördliche Zuständigkeitskonzentration. Sie sei im Rahmen des für Unionsbürger geltenden Freizügigkeitsgesetzes/EU aber nicht anwendbar. Vorschriften des Aufenthaltsgesetzes fänden dort nur Anwendung, wenn im Freizügigkeitsgesetz ausdrücklich auf sie verwiesen werde. Das treffe für die Zuständigkeitsregelung in § 71 Abs. 1 AufenthG nicht zu.


Dem ist der 1. Revisionssenat des Bundesverwaltungsgerichts nicht gefolgt. Zwar findet das Aufenthaltsgesetz nach seinem § 1 Abs. 2 Nr. 1 grundsätzlich keine Anwendung auf Unionsbürger. Dies steht nach der genannten Vorschrift aber unter dem Vorbehalt, dass nicht durch Gesetz etwas anderes bestimmt ist. Eine solche gesetzliche Regelung ist § 71 Abs. 1 AufenthG. Die Vorschrift enthält ausdrücklich eine über das Aufenthaltsgesetz hinausgehende, generalklauselartige Kompetenzzuweisung, die auch aufenthaltsrechtliche Maßnahmen nach dem Freizügigkeitsgesetz erfasst. Einer Rückverweisung des Freizügigkeitsgesetzes in das Aufenthaltsgesetz bedurfte es deshalb nicht.


Das Bundesverwaltungsgericht hat das Verfahren an den Verwaltungsgerichtshof zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen, um die materielle Rechtmäßigkeit der Verlustfeststellung zu klären.


BVerwG 1 C 18.10 - Urteil vom 28.06.2011

Vorinstanz:

, - vom -


Beschluss vom 02.12.2010 -
BVerwG 1 PKH 19.10ECLI:DE:BVerwG:2010:021210B1PKH19.10.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 02.12.2010 - 1 PKH 19.10 - [ECLI:DE:BVerwG:2010:021210B1PKH19.10.0]

Beschluss

BVerwG 1 PKH 19.10

  • VGH Baden-Württemberg - 14.09.2010 - AZ: VGH 11 S 1415/10

In der Verwaltungsstreitsache hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 2. Dezember 2010
durch die Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Dörig und Richter
sowie die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Fricke
beschlossen:

  1. Dem Kläger wird für das Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwalt ..., ..., beigeordnet.
  2. Prof. Dr. Dörig Richter Fricke

Urteil vom 28.06.2011 -
BVerwG 1 C 18.10ECLI:DE:BVerwG:2011:280611U1C18.10.0

Leitsatz:

Die in § 71 Abs. 1 AufenthG geregelte Zuständigkeit der Ausländerbehörden ist eine über das Aufenthaltsgesetz hinausgehende, generalklauselartige Kompetenzzuweisung und gilt auch für aufenthaltsrechtliche Maßnahmen und Entscheidungen gegenüber Unionsbürgern nach dem FreizügG/EU.

  • Rechtsquellen
    AufenthG § 1 Abs. 2, § 71
    FreizügG/EU §§ 2, 6, 11
    AAZuVO § 6 Abs. 3
    Richtlinie 2004/38/EG Art. 28 Abs. 3

  • VGH Baden-Württemberg - 14.09.2010 - AZ: VGH 11 S 1415/10

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Urteil vom 28.06.2011 - 1 C 18.10 - [ECLI:DE:BVerwG:2011:280611U1C18.10.0]

Urteil

BVerwG 1 C 18.10

  • VGH Baden-Württemberg - 14.09.2010 - AZ: VGH 11 S 1415/10

In der Verwaltungsstreitsache hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 28. Juni 2011
durch die Präsidentin des Bundesverwaltungsgerichts Eckertz-Höfer,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Richter,
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Beck,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Kraft und
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Fricke
für Recht erkannt:

  1. Das Urteil des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 14. September 2010 wird aufgehoben.
  2. Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an den Verwaltungsgerichtshof zurückverwiesen.
  3. Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.

Gründe

I

1 Der Kläger, ein italienischer Staatsangehöriger, wendet sich gegen die Feststellung des Beklagten, dass er sein Aufenthaltsrecht in Deutschland verloren habe (sog. Verlustfeststellung).

2 Der inzwischen 57-jährige Kläger kam 1972 nach Deutschland, war mit einer deutschen Staatsangehörigen verheiratet und hat aus dieser Ehe zwei Töchter. Seit 1987 besaß er eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis, später ein Daueraufenthaltsrecht nach dem Freizügigkeitsgesetz/EU. Er war fast 30 Jahre lang bei demselben Arbeitgeber beschäftigt.

3 2005 wurde der Kläger wegen Anstiftung zur Körperverletzung mit Todesfolge zu einer 10-jährigen Freiheitsstrafe verurteilt. Er hatte einen Bekannten gedrängt und ihn dafür bezahlt, dem vermeintlichen Liebhaber seiner Frau „eine Abreibung zu verpassen“. Bei dem Anschlag verlor das Opfer sein Leben. Die Ehe wurde geschieden und das Sorgerecht für die Töchter allein seiner früheren Ehefrau übertragen. Frau und Töchter befinden sich seit Jahren in einem Zeugenschutzprogramm. Der Kläger hat zwei Drittel der Freiheitsstrafe verbüßt. Die Verbüßung der Restfreiheitsstrafe ist zur Bewährung ausgesetzt worden.

4 Das Regierungspräsidium Karlsruhe hat die Verurteilung des Klägers zum Anlass genommen, den Verlust seines Aufenthaltsrechts in Deutschland festzustellen. Das Verwaltungsgericht hat der Klage gegen diese Verlustfeststellung stattgegeben; das Regierungspräsidium könne sich hierbei nicht auf die erforderlichen zwingenden Gründe der öffentlichen Sicherheit stützen.

5 Der Verwaltungsgerichtshof hat die Berufung des Beklagten zurückgewiesen und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt: Die streitige Verlustfeststellung sei bereits deshalb rechtswidrig, weil das Regierungspräsidium hierfür sachlich nicht zuständig gewesen sei. Die Zuständigkeitsverordnung der baden-württembergischen Landesregierung, in der die Zuständigkeit nicht der unteren Ausländerbehörden, sondern der Regierungspräsidien für derartige Verlustfeststellungen vorgesehen sei, sei insoweit unwirksam. Sie sei auf § 71 Abs. 1 AufenthG als gesetzliche Ermächtigungsgrundlage gestützt. Diese Vorschrift erlaube zwar eine ausländerbehördliche Zuständigkeitskonzentration. Sie sei im Rahmen des für Unionsbürger geltenden Freizügigkeitsgesetzes/EU aber nicht anwendbar. Vorschriften des Aufenthaltsgesetzes fänden dort nur Anwendung, wenn im Freizügigkeitsgesetz/EU ausdrücklich auf sie verwiesen werde. Das treffe für die Zuständigkeitsregelung in § 71 Abs. 1 AufenthG nicht zu. Im Hinblick auf diese formelle Rechtswidrigkeit der Verlustfeststellung komme es auf die Frage ihrer materiellen Rechtmäßigkeit nicht mehr an.

6 Gegen diese Entscheidung wendet sich der Beklagte mit seiner Revision.

II

7 Die Revision des Beklagten ist zulässig und begründet. Das Berufungsurteil beruht auf der Verletzung von Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Das Berufungsgericht hat zu Unrecht angenommen, dass § 71 Abs. 1 AufenthG bei aufenthaltsrechtlichen Maßnahmen und Entscheidungen nach dem Gesetz über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (Freizügigkeitsgesetz/EU - FreizügG/EU) keine Anwendung finde und der angefochtene Bescheid deshalb formell rechtswidrig sei, weil er von einer sachlich unzuständigen Behörde erlassen worden sei (1.). Mangels ausreichender tatsächlicher Feststellungen im Berufungsurteil zur materiellen Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheids kann der Senat in der Sache nicht abschließend entscheiden (2.). Das Verfahren ist daher an den Verwaltungsgerichtshof zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO).

8 1. Die vom Kläger angefochtene Verlustfeststellung ist nicht formell rechtswidrig. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts wurde der Bescheid von der zuständigen Behörde erlassen. Die Verlustfeststellung findet ihre Rechtsgrundlage in § 6 Abs. 1 FreizügG/EU. Die sachliche Zuständigkeit für derartige Feststellungen ist in Baden-Württemberg nach § 6 Abs. 3 der Verordnung der Landesregierung und des Innenministeriums über Zuständigkeiten nach dem Aufenthaltsgesetz, dem Asylverfahrensgesetz und dem Flüchtlingsaufnahmegesetz sowie über die Verteilung unerlaubt eingereister Ausländer (Aufenthalts- und Asyl-Zuständigkeitsverordnung - AAZuVO) vom 2. Dezember 2008 (GBl Baden-Württemberg S. 465) bei den Regierungspräsidien konzentriert. Diese landesrechtliche Zuständigkeitsregelung beruht auf der bundesgesetzlichen Ermächtigung in § 71 Abs. 1 AufenthG. Danach sind für aufenthalts- und passrechtliche Maßnahmen und Entscheidungen nach diesem Gesetz und nach ausländerrechtlichen Bestimmungen in anderen Gesetzen die Ausländerbehörden zuständig (Satz 1). Die Landesregierung oder die von ihr bestimmte Stelle kann bestimmen, dass für einzelne Aufgaben nur eine oder mehrere bestimmte Ausländerbehörden zuständig sind (Satz 2).

9 § 71 Abs. 1 AufenthG gilt auch für Maßnahmen und Entscheidungen nach dem Freizügigkeitsgesetz/EU. Nach § 1 Abs. 2 Nr. 1 findet das Aufenthaltsgesetz zwar grundsätzlich keine Anwendung auf Unionsbürger. Dies steht nach der genannten Regelung aber unter dem Vorbehalt, dass nicht „durch Gesetz“ etwas anderes bestimmt ist. Solch eine gesetzliche Regelung ist § 71 Abs. 1 AufenthG. Diese Vorschrift enthält ausdrücklich eine über das Aufenthaltsgesetz hinausgehende, generalklauselartige Kompetenzzuweisung, die auch aufenthaltsrechtliche Maßnahmen und Entscheidungen nach dem Freizügigkeitsgesetz erfasst. Insoweit bedurfte es daher entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts keiner Rückverweisung in § 11 FreizügG/EU auf das Aufenthaltsgesetz.

10 Mit dem Wortlaut des § 1 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG, wonach das Aufenthaltsgesetz keine Anwendung findet auf Ausländer, deren Rechtsstellung von dem Freizügigkeitsgesetz/EU geregelt ist, soweit nicht durch Gesetz etwas anderes bestimmt ist, ist es ohne Weiteres zu vereinbaren, nicht nur die Rückverweisungen auf das Aufenthaltsgesetz im Freizügigkeitsgesetz/EU, sondern auch eine im Aufenthaltsgesetz selbst getroffene abweichende Regelung - wie die in § 71 Abs. 1 AufenthG - zu erfassen. Der Wortlaut des § 71 Abs. 1 AufenthG macht seinerseits deutlich, dass sich die Zuständigkeitsregelung nicht nur Geltung beimisst im Rahmen des Aufenthaltsgesetzes, sondern auch für ausländerrechtliche Bestimmungen „in anderen Gesetzen“.

11 Zusätzlich spricht der systematische Zusammenhang zwischen § 71 Abs. 1 AufenthG und § 11 FreizügG/EU dafür, dass sich die fragliche Zuständigkeitsregelung über das Aufenthaltsgesetz hinaus auch auf aufenthaltsrechtliche Maßnahmen und Entscheidungen gegenüber Unionsbürgern - also auch auf Verlustfeststellungen wie hier - bezieht. Dass eine Verlustfeststellung nach § 6 FreizügG/EU eine aufenthaltsrechtliche Maßnahme bzw. Entscheidung nach einer ausländerrechtlichen Bestimmung in einem anderen Gesetz (als dem Aufenthaltsgesetz) im Sinne des § 71 Abs. 1 AufenthG darstellt, bedarf keiner weiteren Begründung. Zudem setzt das Freizügigkeitsgesetz/EU die Zuständigkeitsregelung in § 71 Abs. 1 AufenthG ersichtlich voraus. Das Freizügigkeitsgesetz/EU enthält selbst keine eigene Zuständigkeitsregelung, sondern knüpft an die Regelungen im Aufenthaltsgesetz an. So spricht das Freizügigkeitsgesetz/EU in § 11 Abs. 2 von der für Verlustfeststellungen zuständigen „Ausländerbehörde“. Auch in § 5 Abs. 3 und § 7 Abs. 1 FreizügG/EU ist nicht von der nach Landesrecht zuständigen Behörde, sondern ausdrücklich von der (zuständigen) „Ausländerbehörde“ die Rede. Insofern ist nach dieser gesetzlichen Systematik davon auszugehen, dass die Zuständigkeitsregelung in § 71 Abs. 1 AufenthG nicht auf Maßnahmen und Entscheidungen nach diesem Gesetz beschränkt ist, sondern als allgemeine Kompetenzzuweisung auch im Bereich des Freizügigkeitsgesetzes/EU Anwendung findet. Wegen des unmittelbaren Zusammenhangs mit der Zuständigkeitsregelung in Satz 1 gilt dies ebenfalls für die Konzentrationsermächtigung in § 71 Abs. 1 Satz 2 AufenthG.

12 Weiterhin streiten auch Sinn und Zweck der maßgeblichen Vorschriften dafür, § 71 Abs. 1 AufenthG als generalklauselartige Kompetenzzuweisung zu verstehen, die über das Aufenthaltsgesetz hinausgeht. Es kann nicht angenommen werden, dass der Bundesgesetzgeber den Vollzug des Freizügigkeitsgesetzes/EU aus dem Aufgabenbündel, das er den Ländern mit dem bundesrechtlichen Begriff der „Ausländerbehörde“ vorgegeben hat, herausnehmen wollte. Dagegen spricht vor allem der eigene Zuständigkeitsbereich des Bundes für die Erteilung von Einreisevisa an Familienangehörige von Unionsbürgern (vgl. § 2 Abs. 4 FreizügG/EU und § 71 Abs. 2 AufenthG). Hätte der Gesetzgeber die Regelungen in § 71 AufenthG auf Maßnahmen nach dem Aufenthaltsgesetz beschränken wollen, hätte er seine originäre Zuständigkeit für diesen Aufgabenbereich teilweise aufgegeben. Dabei handelt es sich aber um eine Zuständigkeit, die jedenfalls im Ausland von Landesbehörden nicht wahrgenommen werden kann.

13 Die Entstehungsgeschichte der Vorschriften steht dieser Auslegung nicht entgegen. Zwar findet sich in der Begründung zum Entwurf des Freizügigkeitsgesetzes/EU das Ziel, eine vom allgemeinen Ausländerrecht weitestgehend losgelöste Regelung des Aufenthaltsrechts der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen zu erreichen (BTDrucks 15/420 S. 102). Ähnlich geht der Gesetzentwurf zum Aufenthaltsgesetz in seiner Begründung davon aus, dass aufgrund der fortschreitenden Einigung Europas und der weitreichenden Sonderstellung des Freizügigkeitsrechts Unionsbürger grundsätzlich aus dem Anwendungsbereich des Gesetzes ausgenommen werden. Eine Anwendung komme nur in Betracht, wenn „ein anderes Bundesgesetz“ Vorschriften dieses Gesetzes ausdrücklich für anwendbar erkläre (BTDrucks 15/420 S. 68). Diese Zielvorstellungen haben im Wortlaut der Vorschriften, insbesondere in § 1 Abs. 2 AufenthG, aber jedenfalls hinsichtlich der Zuständigkeitsregelung in § 71 Abs. 1 AufenthG keinen Niederschlag gefunden. Die unionsrechtliche Ausrichtung der Gesetzesbegründungen bezieht sich bei verständiger Würdigung zudem auf die Ausgestaltung des materiellen Rechts und nicht auf Zuständigkeitsreglungen. Denn das Gemeinschaftsrecht überlässt es in aller Regel den Mitgliedstaaten, die behördlichen Vollzugskompetenzen selbst zu regeln. Für diese Deutung spricht auch, dass in der Gesetzesbegründung zu § 71 AufenthG ausdrücklich auf die inhaltsgleiche Vorgängervorschrift in § 63 AuslG 1990 Bezug genommen worden ist, die auch den Anwendungsbereich des vor dem Freizügigkeitsgesetz/EU geltenden Aufenthaltsgesetz/EWG erfasste (BTDrucks 15/420 S. 94).

14 2. Die materielle Rechtmäßigkeit der vom Kläger angefochtenen Verlustfeststellung kann im Revisionsverfahren mangels ausreichender tatsächlicher Feststellungen im Berufungsurteil nicht abschließend beurteilt werden. Da der Kläger seinen Aufenthalt in den letzten 10 Jahren im Bundesgebiet hatte, kann eine Verlustfeststellung in Umsetzung des Art. 28 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 - sog. Unionsbürgerrichtlinie - nur aus zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit getroffen werden (§ 6 Abs. 5 Satz 1 i.V.m. Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU). Was unter zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit in diesem Sinne zu verstehen ist, ist dem Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 23. November 2010 in der Sache Tsakouridis (Rs. C-145/09 - InfAuslR 2011, 45) zu entnehmen. Hierbei ist zu beachten, dass der EuGH die Anforderungen an derartige zwingende Gründe teilweise anders beurteilt hat als der Generalanwalt in seinen Schlussanträgen. Das Berufungsgericht wird in diesem Zusammenhang insbesondere den Hintergründen der vom Kläger zu verantwortenden Tat und der Tatbegehung nachzugehen haben.

15 Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.