Beschluss vom 30.06.2004 -
BVerwG 1 B 283.03ECLI:DE:BVerwG:2004:300604B1B283.03.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 30.06.2004 - 1 B 283.03 - [ECLI:DE:BVerwG:2004:300604B1B283.03.0]

Beschluss

BVerwG 1 B 283.03

  • OVG für das Land Nordrhein-Westfalen - 14.10.2003 - AZ: OVG 15 A 1725/98.A

In der Verwaltungsstreitsache hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 30. Juni 2004
durch die Vizepräsidentin des Bundesverwaltungsgerichts E c k e r t z - H ö f e r ,
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht B e c k und den Richter am
Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. D ö r i g
beschlossen:

  1. Die Beschwerde der Kläger gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 14. Oktober 2003 wird verworfen.
  2. Die Kläger tragen die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Die Beschwerde der Kläger ist unzulässig. Sie legt die geltend gemachten Revisionszulassungsgründe der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) und eines Verfahrensmangels (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) nicht in einer Weise dar, die den Anforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO genügt.
Die Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache setzt voraus, dass eine bestimmte klärungsfähige und klärungsbedürftige Frage des revisiblen Rechts aufgeworfen wird. Eine solche lässt sich der Beschwerde nicht entnehmen. Die Beschwerde hält die Frage "des Umfangs der Schutzgewährung des Art. 16 a GG/§ 51 AuslG bezüglich der Sippenhaftgefahr bei der Durchsetzung von Strafvollstreckungsmaßnahmen" für grundsätzlich bedeutsam. Sie will damit sinngemäß geklärt wissen, ob nahen Angehörigen bestimmter politisch Verfolgter in der Türkei auch dann Sippenhaft droht, wenn sie nicht zum Zwecke der Strafverfolgung, sondern zum Zwecke der Strafvollstreckung gesucht werden. Diese Frage betrifft die den Tatsachengerichten vorbehaltene Feststellung und Würdigung der tatsächlichen Verhältnisse in der Türkei, ist aber keine Rechtsfrage, die in einem Revisionsverfahren geklärt werden könnte.
Auch die von der Beschwerde erhobene Verfahrensrüge der Verletzung des rechtlichen Gehörs der Kläger (§ 108 Abs. 2 VwGO, Art. 103 Abs. 1 GG) genügt nicht den Darlegungsanforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO.
Die Beschwerde meint, das Berufungsurteil stelle eine unzulässige Überraschungsentscheidung dar. Obwohl in der grundlegenden Entscheidung des Berufungssenats zur politischen Verfolgung in der Türkei vom 27. Juni 2002 - OVG 8 A 4782/99.A - deutliche Gründe dafür genannt würden, dass auch ein Haftbefehl zum Zwecke der Durchsetzung der Strafvollstreckung Sippenhaftmaßnahmen mit sich ziehe, habe das Berufungsgericht dies in dem angefochtenen Urteil - für die Kläger gänzlich überraschend - abgelehnt. Einen diesbezüglichen Hinweis, der den Klägern die Möglichkeit zur weiteren Stellungnahme gegeben hätte, habe das Gericht nicht erteilt.
Mit diesem Vorbringen ist das Vorliegen einer unzulässigen Überraschungsentscheidung und damit einer Verletzung des rechtlichen Gehörs nicht aufgezeigt. Die Beschwerde verkennt, dass das Gericht grundsätzlich nicht verpflichtet ist, die ihm obliegende abschließende Sachverhalts- und Beweiswürdigung vorab mit den Beteiligten zu erörtern (stRspr, vgl. Beschlüsse vom 21. Januar 2000 - BVerwG 9 B 614.99 - Buchholz 310 § 130 a VwGO Nr. 46 und vom 26. November 2001 - BVerwG 1 B 347.01 - Buchholz 310 § 86 Abs. 3 VwGO Nr. 52). Etwas anderes gilt zwar dann, wenn das Urteil sich ohne einen vorherigen gerichtlichen Hinweis als unzulässige Überraschungsentscheidung darstellen würde, weil das Gericht einen bis dahin nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt zur Grundlage seiner Entscheidung macht und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit der die Beteiligten nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens nicht zu rechnen brauchten (stRspr, vgl. etwa Beschluss vom 25. April 2001 - BVerwG 4 B 31.01 - Buchholz 310 § 117 VwGO Nr. 47 = NVwZ-RR 2001, 798 und vom 11. Mai 1999 - BVerwG 9 B 1076.98 - <juris> m.w.N.). Dass derartige Umstände hier vorliegen, lässt sich der Beschwerde indes nicht entnehmen. Soweit sie geltend macht, die Kläger hätten angesichts der vom Berufungssenat eingeführten eigenen Grundsatzentscheidung vom 27. Juni 2002 davon ausgehen dürfen, dass das Gericht auch in ihrem Fall die Gefahr von Sippenhaft bejahe, und hätten deshalb auf die abweichende Beurteilung hingewiesen werden müssen, wird dies bereits nicht nachvollziehbar dargelegt. Die Beschwerde behauptet lediglich, es seien in dem bezeichneten Urteil "deutliche Gründe" dafür genannt, dass "auch ein Haftbefehl zum Zweck der Durchsetzung der Strafvollstreckung Sippenhaftmaßnahmen mit sich" ziehe, benennt aber keine Passage des Urteils, aus der sich ausdrückliche und eindeutige Aussagen zu der Beurteilung eines Haftbefehls zum Zwecke der Durchsetzung einer - aus gesundheitlichen Gründen unterbrochenen - Strafvollstreckung ergeben, um die es im Falle des Sohnes K. der Kläger geht. Tatsächlich lässt sich eine solche generelle Aussage dem Urteil auch nicht entnehmen. Vielmehr ist dort ausdrücklich betont, es handele sich bei der Feststellung, dass sich in der Türkei Sippenhaft im Allgemeinen nur auf nahe Angehörige von Aktivisten militanter staatsfeindlicher Organisationen erstrecke, die dort landesweit gesucht würden, um einen Grundsatz, der Abweichungen nicht ausschließe. So könne trotz Vorliegens sämtlicher generell für die Annahme einer Sippenhaftgefahr relevanter Umstände wegen der besonderen Verhältnisse des Einzelfalles eine Sippenhaftgefahr ausgeschlossen sein, etwa dann, wenn zwischen der Tat des Sippenhaftvermittlers, seiner oder des Asylbewerbers Ausreise und dem heutigen Zeitpunkt ein ganz erheblicher zeitlicher Abstand liege (Urteil vom 27. Juni 2002 S. 88). Ausgehend von dieser Rechtsprechung konnten und durften die anwaltlich vertretenen Kläger nicht ohne weiteres damit rechnen, dass das Gericht in ihrem Fall die Gefahr einer Sippenhaft bejahen würde. Sie mussten deshalb von sich aus auch ohne einen gerichtlichen Hinweis alles aus ihrer Sicht Erforderliche vortragen, um ihrem Begehren zum Erfolg zu verhelfen. Im Übrigen lässt sich dem Beschwerdevorbringen auch nicht - wie erforderlich - entnehmen, was die Kläger bei einem entsprechenden Hinweis des Gerichts im Einzelnen noch vorgetragen hätten und inwieweit dieses Vorbringen geeignet gewesen wäre, eine für sie günstige Entscheidung des Berufungsgerichts herbeizuführen. Die Beschwerde setzt sich schon nicht im Einzelnen mit der Begründung auseinander, mit der das Berufungsgericht - trotz des Umstandes, dass der Sohn K. der Kläger zur weiteren Strafhaftverbüßung zur Verhaftung ausgeschrieben ist - dessen Eigenschaft als Vermittler der Sippenhaft verneint hat (UA S. 8 f.). In Wahrheit wendet sich die Beschwerde mit ihrer Rüge gegen die ihrer Ansicht nach unrichtige Beweiswürdigung durch das Berufungsgericht. Damit kann ein Verfahrensmangel aber nicht begründet werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83 b Abs. 1 AsylVfG nicht erhoben. Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 83 b Abs. 2 AsylVfG.