Beschluss vom 30.01.2003 -
BVerwG 6 B 62.02ECLI:DE:BVerwG:2003:300103B6B62.02.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 30.01.2003 - 6 B 62.02 - [ECLI:DE:BVerwG:2003:300103B6B62.02.0]

Beschluss

BVerwG 6 B 62.02

  • VG Hamburg - 25.01.2002 - AZ: 3 VG W 2876/2001

In der Verwaltungsstreitsache hat der 6. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 30. Januar 2003
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht
Dr. B a r d e n h e w e r und die Richter am
Bundesverwaltungsgericht B ü g e und
Dr. G r a u l i c h
beschlossen:

  1. Die Beschwerde des Klägers gegen die Nicht-zulassung der Revision in dem Urteil des Verwaltungsgerichts Hamburg vom 25. Januar 2002 wird zurückgewiesen.
  2. Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerde-verfahrens.
  3. Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 4 000 € festgesetzt.

Die auf die Verfahrens- (1.) und Grundsatzrüge (2.) gestützte Beschwerde bleibt ohne Erfolg.
1. Die Verfahrensrüge ist nur begründet, wenn ein Verfahrens-mangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO). Entgegen dem Beschwerdevorbringen hat das Verwaltungsgericht seine Aufklärungspflicht nach § 86 Abs. 1 VwGO nicht verletzt.
a) Die Beschwerde rügt, das Verwaltungsgericht habe in seinem Urteil in rechtlich unzulänglicher Weise den Hinweis im Klägerschriftsatz vom 16. Mai 2002 auf die mangelnde Berück-sichtigung der familiär bedingten Veranlagung im Sachverstän-digengutachten abgetan. Es sei nicht ausreichend, dass das Verwaltungsgericht dazu lediglich ausführe, der Sachverstän-dige habe dem ersichtlich keine weitere Bedeutung beige-messen. Genau dies sei nämlich Gegenstand der Beanstandung des Klägers. Das Verwaltungsgericht hätte den Sachverstän-digen auf das substantiierte Klägervorbringen hin zumindest zu einer ergänzenden gutachterlichen Stellungnahme auffordern müssen.
Die Nichteinholung einer solchen Ergänzung stelle eine Verletzung der richterlichen Aufklärungspflicht im Sinne des § 86 VwGO dar.
In seiner Stellungnahme vom 16. Mai 2002 hatte der Kläger vorgebracht, der Gutachter Dr. N. habe in seinen Ausführungen die familiäre Disposition des Klägers für bestimmte Krankheitsbilder außer Acht gelassen, obwohl ihm im Rahmen des am 9. April 2002 durchgeführten orthopädischen Untersuchungstermins auch die spezifischen Krankheits-geschichten sowohl des älteren Bruders als auch des Vaters des Klägers - anhand von Röntgenbildern - noch einmal nahe gebracht worden seien. Der Kläger sei von den Problemen der Rückenwirbelsäule eher noch stärker betroffen, als sein Vater und sein Bruder es in seinem Alter gewesen seien.
Das Verwaltungsgericht hat sich mit dieser Frage unter dem Gesichtspunkt einer etwa notwendigen zusätzlichen Beweis-erhebung befasst (Urteil S. 7 ff.). Es hat diese abgelehnt mit der Erwägung, dass das Gutachten mit dem Hinweis auf die unterbliebene Auseinandersetzung mit der behaupteten familiären Disposition nicht in Zweifel gezogen werden könne. Der Sachverständige habe den Sachverhalt so zur Kenntnis genommen und gewürdigt, wie er sich ihm aus den übersandten Unterlagen und den mündlichen Erläuterungen des Klägers im Rahmen der Untersuchung dargestellt habe. Das Gericht habe keinen Anlass, daran zu zweifeln, dass der Kläger alle relevanten Tatsachen vorgetragen habe. Sofern der Sachverständige den familiären Hintergrund nicht weiter aufgeklärt bzw. bewertet habe, spreche dies nach der Überzeugung des Gerichts dafür, dass er dem keine weitere Bedeutung beigemessen habe.
Die Aufklärungsrüge führt nicht zum Erfolg, weil die Ausfüh-rungen des Klägers in Abschnitt I seines Beweisantrages vom 16. Mai 2002 nicht geeignet waren, die Überzeugungskraft des vom Verwaltungsgericht eingeholten Sachverständigengutachtens zu erschüttern. Die Behauptung im Beweisantrag, die Berück-sichtigung der Wirbelsäulenbeschwerden beim Vater und beim älteren Bruder des Klägers hätte weitaus näher gelegen als der vom Gutachter angestellte Vergleich mit der asymptoma-tischen Wohnbevölkerung, war weder fachmedizinisch belegt, noch mit Blick auf die detaillierten Aussagen im Gutachten offensichtlich zutreffend. Dort war dargelegt, dass zwischen dem Rückenschmerz und dem Befund einer diskreten Bandschei-benprotrusion ein Kausalzusammenhang nicht nachweisbar ist, weil ein derartiger Befund auch bei Menschen, die keinerlei Rückenschmerzen verspüren (asymptomatische Wohnbevölkerung), häufig anzutreffen ist und für die Chronifizierung derartiger Rückenbeschwerden vorwiegend außermedizinische Gründe eine Rolle spielen (vgl. Gutachten S. 19 f.). Wie im Gutachten weiter festgestellt ist, erfüllt die beim Kläger vorliegende Seitverbiegung der Wirbelsäule um 10 Grad die Kriterien einer strukturellen Skoliose nur gerade eben (a.a.O. S. 21). Die vom Gutachter angeführte Literatur, wonach bei Skoliose-winkeln von unter 30 Grad von einer Einschränkung des körper-lichen Leistungsvermögens nicht auszugehen ist (vgl. dazu auch Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch, 259. Aufl. 2002, Stichwort "Skoliose"), stimmt mit der Einschätzung in der ZDv 46/1 zu Gradation IV der Fehlernummer 42 überein. Angesichts der substantiierten fachärztlichen Darlegungen des Gutachters hätte es zur Erschütterung seiner Schlussfolgerungen mehr bedurft als des Hinweises auf die Rückenbeschwerden zweier naher Angehöriger, zumal dieser Zusammenhang nach der eigenen Darstellung des Klägers an den Gutachter herangetragen und von diesem ersichtlich mitbedacht worden ist.
b) Die Beschwerde rügt weiter, das Verwaltungsgericht habe die klägerische Einwendung gegen das Gutachten wegen mangelnder Prognosestellung nicht angemessen gewürdigt. So enthalte das Gutachten zu den Kniebeschwerden des Klägers auf S. 23/24 lediglich eine Befundbewertung. Jedenfalls im Rahmen der Prognose hätte die familiäre Disposition berücksichtigt werden müssen.
Das Verwaltungsgericht hat in dem Urteil dazu ausgeführt, der Vorwurf, es fehle an einer nachvollziehbaren Prognose für die Wahrscheinlichkeit einer schweren körperlichen Schädigung oder erheblichen gesundheitlichen Gefährdung des Klägers, sei nicht verständlich. Der Sachverständige habe sich insbeson-dere auf den Seiten 20 und 21 zu der zu erwartenden Entwick-lung der Rückenproblematik und auf den Seiten 23 und 24 prognostisch zu den Kniebeschwerden geäußert (Urteil S. 8).
Die Verfahrensrüge bleibt auch insoweit ohne Erfolg. Zutreffend ist in den Urteilsgründen auf diejenigen Stellen im Gutachten von Dr. N. hingewiesen worden, an denen sich prognostische Aussagen befinden. Auch die Darlegungen des Gutachters zu den Kniebeschwerden des Klägers lassen an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Aus den Hinweisen, bei dem vorderen Knieschmerz handele es sich um ein bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen außerordentlich häufiges Beschwerdebild (nach Literaturangaben bis zu 70 % aller Jugendlichen) und es sei ganz wichtig, den Patienten von der Harmlosigkeit dieses letztlich eine Befindlichkeitsstörung darstellenden Beschwerdebildes zu überzeugen (a.a.O. S. 24), lässt sich unschwer herleiten, dass die Kniebeschwerden jetzt und auf absehbare Zeit keine Einschränkung des körperlichen Leistungsvermögens beinhalten, welche die Ausmusterung des Klägers rechtfertigen könnten. Hinsichtlich der so genannten familiären Disposition gilt im vorliegenden Zusammenhang nichts anderes, als oben bereits ausgeführt worden ist.
c) Außerdem rügt die Beschwerde, der Kläger habe mit Schrift-satz vom 16. Mai 2002 die Einholung eines ergänzenden neurologischen Gutachtens beantragt, nachdem sich nach Vorliegen des Gutachtens von Dr. N. vom 9. April 2002 gezeigt habe, dass dessen fachorthopädische Stellungnahme für die Beurteilung der Sache nicht ausreiche. Das Verwaltungsgericht sei diesem Beweisantrag aber nicht gefolgt. Die insoweit gegebene Begründung im Urteil, der Kläger habe in der mündlichen Verhandlung vom 25. Januar 2002 eine orthopädische Begutachtung für ausreichend gehalten, sei nicht tragfähig. Dem Protokoll sei eine entsprechende Äußerung nicht zu entnehmen. Das von Seiten des Klägers in der mündlichen Verhandlung geäußerte Einverständnis mit der orthopädischen Begutachtung, die keineswegs alle sich stellenden fachmedizinischen Fragen hätte abdecken müssen, hätte zu keinem Zeitpunkt dahingehend verstanden werden können, dass eine weitere Aufklärung damit nicht mehr für notwendig erachtet wurde. Insbesondere habe auch die Bezugnahme des Sachverständigen Dr. N. auf "gewisse Überlegungen des Neurologen Dr. B. vom 21. September 2001 zur chronischen Schmerzkrankheit" auf S. 20 des Gutachtens von Dr. N. die Notwendigkeit einer ergänzenden neurologischen Stellungnahme verdeutlicht.
An der entsprechenden Stelle im Gutachten von Dr. N. (S. 20) ist ausgeführt, bei freier Beweglichkeit der Lendenwirbelsäule, fehlendem so genanntem Segmentbefund, unauffälliger Neurologie und letztlich auch weitgehend unauffälliger muskulärer Situation rechtfertige der kernspintomographische Befund einer diskreten Bandscheibenprotrusion alleine nicht die Feststellung einer nennenswerten Einschränkung der Belastbarkeit. Lediglich aufgrund des mittlerweile chronifizierten Rückenschmerzes - hier mache er sich gewisse Überlegungen des Neurologen Dr. B. vom 21. September 2001 zur chronischen Schmerzkrankheit zu eigen, wie sie auch in der Literatur beschrieben seien - könne von einer eingeschränkten Belastbarkeit der Wirbelsäule dahingehend ausgegangen werden, dass bestimmte Teile der Grundausbildung, die so genannten verzichtbaren Tätigkeiten aus dem Tätigkeitskatalog des Bundesamtes für Wehrverwaltung, dem Kläger nicht zugemutet werden sollten.
In seiner Stellungnahme vom 16. Mai 2002 zum Gutachten von Dr. N. hatte der Kläger insofern beantragt, die Wahrschein-lichkeit einer schweren körperlichen Schädigung oder einer erheblichen gesundheitlichen Gefährdung des Klägers durch das Gutachten eines unabhängigen neurologischen Facharztes feststellen zu lassen.
In den Urteilsgründen (S. 8) ist die Ablehnung eines vom Kläger beantragten ergänzenden neurologischen Gutachtens auf die Überlegung gestützt worden, dieser habe nicht vorgetragen, welchen zusätzlichen Erkenntnisgewinn er sich von einem neurologischen Fachgutachten verspreche. Es handele sich vorliegend um orthopädische Fragen, die ausreichend sachverständig begutachtet worden seien. In der mündlichen Verhandlung vom 25. Januar 2002 habe der Kläger auch eine orthopädische Begutachtung für ausreichend gehalten. Er habe schließlich auch keine neuen Atteste vorgelegt, die sich mit den Sachverständigengutachten auseinandersetzten und Anlass hätten geben können, eine weitere Begutachtung erforderlich erscheinen zu lassen.
Die Beschwerde hat auch insoweit keinen Erfolg. Die Nichteinholung eines weiteren Gutachtens im Wehrheranziehungsverfahren ist in aller Regel nur dann verfahrensfehlerhaft, wenn das bereits vorliegende Gutachten auch für den nicht Sachkundigen erkennbare Mängel aufweist, insbesondere von unzutreffenden tatsächlichen Voraussetzungen ausgeht oder unlösbare Widersprüche aufweist, wenn Anlass zu Zweifeln an der Sachkunde oder Unparteilichkeit des Sachverständigen besteht, wenn ein anderer Sachverständiger über bessere Forschungsmittel verfügt oder wenn es sich um besonders schwierige (medizinische) Fragen handelt, die umstritten sind oder zu denen einander widersprechende Gutachten vorliegen (BVerwG, Urteil vom 6. Februar 1985 - BVerwG 8 C 15.84 - Buchholz 303 § 414 ZPO Nr. 1 = BVerwGE 71, 38). An derartigen Defiziten leidet das vom Verwaltungsgericht eingeholte Gutachten auch nach dem Vorbringen der Beschwerde nicht.
Ein ergänzendes neurologisches Gutachten war aber auch nicht aufgrund des klägerischen Antrags vom 16. Mai 2002 geboten, weil dort nicht dargelegt wurde, weshalb es neben der erfolgten umfangreichen orthopädischen Begutachtung noch zusätzlich eines neurologischen Gutachtens bedurfte. Allein die Auswertung einer vorgerichtlich eingereichten ärztlichen Bescheinigung eines Facharztes für Nervenheilkunde durch den gerichtlichen Sachverständigen legte eine ergänzende Beweisaufnahme nicht nahe.
2. Die Grundsatzrüge (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) bleibt ebenfalls ohne Erfolg. Grundsätzliche Bedeutung hat eine Rechtssache dann, wenn die Klärung der für die Beurteilung des Streitfalles maßgeblichen Rechtsfrage über ihre Bedeutung für den zu entscheidenden konkreten Fall hinaus wesentliche Bedeutung für die einheitliche Auslegung und Anwendung oder für die Fortbildung des Rechts hat.
Die Rüge ist unzulässig, soweit sie ohne nähere rechtliche Einordnung die Frage zur Klärung stellt, ob nicht auch Wehrpflichtige die eine Übergröße von 2,02 Metern und mehr messen, generell als nicht wehrdienstfähig eingestuft werden müssten, wie dies bei Menschen mit einer Körpergröße von 1,49 Metern und weniger der Fall sei. Als wehrfachliche Frage handelt es sich nicht um eine Rechts-, sondern um eine Tatsachenfrage, welche der Klärung im Wege der Grundsatz-revision nicht zugänglich ist. Nur der Klarstellung halber sei im Übrigen darauf hingewiesen, dass die ZDv 46/1 unter GNr. 1 "Größe, Konstitution" in den Anmerkungen eine Berücksichtigung besonderer Körperlänge unter bestimmten Voraussetzungen vorsieht: "Eine GZr der GNr. 13 ist zu vergeben u.a. bei Minderung der psychischen Belastbarkeit durch extreme Körperlänge"; GNr. 13 betrifft Krankheitsbilder der Psyche.
Soweit in der unterschiedlichen Behandlung von Menschen mit extremer Körperlänge einerseits und solchen mit Minderwuchs andererseits eine mögliche Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes gesehen wird, handelt es sich dabei zwar um eine Rechtsfrage. Diese bedarf jedoch nicht der Klärung in einem Revisionsverfahren. Der darin von der Beschwerde gesehene Gleichbehandlungsverstoß lässt sich nämlich ohne weiteres verneinen. Es drängt sich auf, dass die wehrdienstliche Tauglichkeit von Menschen entsprechend ihrer unterschiedlichen Körpergröße verschieden beurteilt werden kann, nicht aber, dass sie zur Vermeidung eines Gleichbehandlungsverstoßes gleich behandelt werden muss. Im Übrigen verbietet sich eine generelle Ausmusterung junger Männer mit einer Körpergröße von mehr als zwei Metern offensichtlich angesichts des Umstandes, dass nicht wenige Spitzensportler eine derartige Körpergröße aufweisen.
3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO, die Festsetzung des Streitwerts für das Beschwerdeverfahren beruht auf § 14 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3, § 13 Abs. 1 Satz 2 GKG.