Beschluss vom 28.04.2009 -
BVerwG 8 B 15.09ECLI:DE:BVerwG:2009:280409B8B15.09.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 28.04.2009 - 8 B 15.09 - [ECLI:DE:BVerwG:2009:280409B8B15.09.0]

Beschluss

BVerwG 8 B 15.09

  • VG Leipzig - 16.07.2008 - AZ: VG 1 K 1364/06

In der Verwaltungsstreitsache hat der 8. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 28. April 2009
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Gödel,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Pagenkopf und
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Hauser
beschlossen:

  1. Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision in dem aufgrund mündlicher Verhandlung vom 16. Juli 2008 ergangenen Urteil des Verwaltungsgerichts Leipzig wird zurückgewiesen.
  2. Die Klägerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen.
  3. Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 109 927,75 € festgesetzt.

Gründe

1 Die Beschwerde hat keinen Erfolg. Die geltend gemachten Verfahrensfehler liegen nicht vor (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO).

2 1. Entgegen der Auffassung der Klägerin hat das Verwaltungsgericht den Anspruch der Klägerin auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 VwGO) nicht verletzt. Nach § 108 Abs. 2 VwGO darf das Urteil nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt werden, zu denen sich die Beteiligten äußern konnten. Die Vorschrift konkretisiert die Gewährung des rechtlichen Gehörs gemäß Art. 103 Abs. 1 GG. Das Gebot zur Gewährung rechtlichen Gehörs verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Die Beteiligten müssen demgemäß auch Gelegenheit erhalten, sich zu allen entscheidungserheblichen Tatsachen und zu den entscheidungserheblichen Rechtsfragen sachgemäß, zweckentsprechend und erschöpfend erklären zu können.

3 Nach der eigenen Einlassung des Bevollmächtigten der Klägerin konnte er sich im Klageverfahren ausreichend schriftlich äußern. Das Protokoll über die mündliche Verhandlung vom 16. Juli 2008 enthält die Aussage, dass mit den erschienenen Beteiligten die Sach- und Rechtslage erörtert wurde. Aus den Entscheidungsgründen des Urteils ist ersichtlich, dass sich das Verwaltungsgericht mit dem klägerischen Vortrag auseinandergesetzt hat. Das Verwaltungsgericht ist u.a. anhand der Ausführungen der Sachverständigen G. in ihrem Gutachten vom 15. März 2008 und deren Anhörung in der mündlichen Verhandlung zu dem Ergebnis gekommen, dass die Restnutzungsdauer des streitgegenständlichen Objekts zum Zeitpunkt des Verzichts mit noch vier Jahren anzusehen war. Eine Verlängerung der Restnutzungsdauer hielt das Verwaltungsgericht wegen des technisch schlechten Bauzustandes für nicht angezeigt. Eine Verlängerung der Restnutzungsdauer hielt das Verwaltungsgericht auch im Hinblick auf die Altunterlagen für nicht geboten. Dort wurde die Restnutzungsdauer 1974 mit ca. „70 Jahre“ bzw. „40 Jahre“ angegeben. Für das Verwaltungsgericht war entscheidend, dass nach den Ausführungen der Sachverständigen in der mündlichen Verhandlung es seinerzeit untunlich gewesen sei, auf größere Bauschäden hinzuweisen, weil ansonsten dem Verzichtsantrag nicht entsprochen worden wäre. Bei der Ermittlung des maßgeblichen Grundstückswertes hat das Verwaltungsgericht darauf abgestellt, dass entweder die konkrete Beleihungsgrenze oder eine anhand der in der DDR geltenden Bewertungsvorschriften - vorliegend der Bewertungsrichtlinie vom 4. Mai 1960 - vorzunehmende Berechnung des Mittels von Sach- und Ertragswert maßgeblich ist, wobei der Sachwert die Obergrenze bildet.

4 Die Beschwerde wendet sich im Grunde gegen die Tatsachen- und Beweiswürdigung der Vorinstanz, die dem sachlichen Recht zuzuordnen ist und revisionsrechtlich nur eingeschränkt überprüfbar ist. Gemäß § 137 Abs. 2 VwGO kann die Beweiswürdigung durch das Tatsachengericht vom Revisionsgericht nur auf die Verletzung allgemein verbindlicher Beweisgrundsätze überprüft werden, zu denen die allgemeinen Auslegungsgrundsätze, die gesetzlichen Beweisregeln, die Denkgesetze oder die allgemeinen Erfahrungsgesetze gehören. Eine Verletzung derartiger Grundsätze ist nicht ersichtlich.

5 2. Das Verwaltungsgericht hat auch keine unzulässige Überraschungsentscheidung getroffen, weil die Klägerin nach ihrem Vortrag wegen der ersten Entscheidung des Gerichts im Urteil vom 24. April 2006 damit rechnen durfte, dass auch in diesem Verfahren sich das Gericht von den damaligen Erwägungen habe leiten lassen.

6 Die Rüge greift nicht. Der Grundsatz des rechtlichen Gehörs verbietet, dass ein Beteiligter durch die angegriffene Entscheidung im Rechtssinne „überrascht“ wird. Eine solche Überraschungsentscheidung im Rechtssinne liegt vor, wenn das Gericht seiner Entscheidung tragend eine Rechtsauffassung zugrunde legt, die weder im Verwaltungsverfahren noch im verwaltungsgerichtlichen Verfahren erörtert wurde und die etwa in ihrer Spezialität zunächst als fernliegend anzusehen ist (Urteil vom 19. Juli 1985 - BVerwG 4 C 62.82 - Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 170; Beschlüsse vom 23. Dezember 1991 - BVerwG 5 B 80.91 - Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 241 und vom 9. Dezember 1999 - BVerwG 6 B 60.99 - Buchholz 310 § 108 Abs. 2 VwGO Nr. 16). Diese Voraussetzung ist hier nicht gegeben. Das Verwaltungsgericht hat nicht seine Rechtsauffassung geändert. Geändert haben sich aufgrund der erneuten Beweisaufnahme die tatsächlichen Grundlagen für die rechtliche Bewertung.

7 3. Das Verwaltungsgericht hat entgegen der Auffassung der Beschwerde auch nicht die gerichtliche Aufklärungspflicht (§ 86 Abs. 1 VwGO) verletzt, weil es den in der mündlichen Verhandlung am 16. Juli 2008 hilfsweise gestellten Beweisanträgen zu der entscheidungserheblichen Behauptung nicht nachgegangen sei, dass bei der Ermittlung des Beleihungswertes von Gebäudegrundstücken eine den tatsächlichen Gegebenheiten entsprechende angemessene Verlängerung der Nutzungsdauer erfolgt sei und daher ein Wert im Bereich des Einheitswertes erreicht worden sei.

8 Es kann dahingestellt bleiben, ob die Klägerin mit der Aufklärungsrüge den Anforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO an die Bezeichnung eines Verfahrensmangels genügt. Jedenfalls ist die Aufklärungspflicht nicht verletzt. Das Verwaltungsgericht hat sich zur Länge der Restnutzungsdauer nicht nur auf das Gutachten und die mündliche Vernehmung der Sachverständigen G. gestützt, sondern auch die Berechnung der sachverständigen Zeugin Sch. berücksichtigt, die eine Restnutzungsdauer von mindestens fünf Jahren angenommen hat. Auch bei einer solchen Restnutzungsdauer wäre - so das Verwaltungsgericht - eine Überschuldung des Gebäudes zu bejahen. Die Einholung eines weiteren Sachverständigengutachtens musste sich dem Verwaltungsgericht angesichts der Ausführungen der Sachverständigen G. und der Zeugin Sch. nicht aufdrängen. Hierzu bestand mit Blick auf die Schreiben des Rates der Stadt Leipzig und des VEB Gebäudewirtschaft Leipzig aus dem Jahr 1974, die eine Restnutzungsdauer von ca. 70 Jahren bzw. ca. 40 Jahren angenommen hatten, keine Notwendigkeit. Das Verwaltungsgericht hat sich mit beiden Schreiben auseinandergesetzt und ihnen keine rechtserhebliche Bedeutung beigemessen. Die Beschwerdebegründung hat dies zwar kritisiert, aber keine Gesichtspunkte benannt, die für eine andere rechtliche Einschätzung sprechen könnten.

9 4. Dem Verwaltungsgericht musste sich eine weitere Sachaufklärung auch nicht zum Instandsetzungsbedarf aufdrängen, weil die Sachverständige einseitig ermittelt und von falschen Voraussetzungen ausgegangen sei, wie die Beschwerde meint. Die Beschwerde begründet dies damit, dass die Sachverständige den erforderlichen Instandsetzungsaufwand zwischen 14 400 und 50 000 Mark eingeschätzt habe. Dies habe sie anhand des Bestätigungsblattes vom 24. Februar 1984 und der Stellungnahme des VEB Gebäudewirtschaft Leipzig vom 16. April 1974 geschlussfolgert. Die Sachverständige habe das Formularschreiben der Rechtsvorgängerin der Beigeladenen vom 5. Februar 1974 vernachlässigt, wonach lediglich Reparaturarbeiten in Höhe von 100 bis 200 Mark erforderlich gewesen seien. Sie habe das Schreiben des Rates der Stadt Leipzig an den VEB Gebäudewirtschaft Leipzig vom 14. Februar 1974 und die Stellungnahme der Stadt Leipzig vom 5. Juni 1974 zum baulichen Zustand und zur Restnutzungsdauer nicht berücksichtigt, ebenso den bau- und holztechnischen Untersuchungsbericht vom 5. März 1991 und die Aufstellung der Klägerin vom 17. Juli 1978.

10 Zu den angeführten Unterlagen ist darauf zu verweisen, dass die Sachverständige G. in ihrem Gutachten den bau- und holzschutztechnischen Untersuchungsbericht vom 5. März 1991 herangezogen und verwertet hat. Außerdem hat die Sachverständige in ihrer mündlichen Vernehmung erklärt, dass sie die in den Akten enthaltenen Unterlagen bei ihrer gutachtlichen Beurteilung berücksichtigt habe. Davon abgesehen bot die Vernehmung der Sachverständigen in der mündlichen Verhandlung der Klägerin Gelegenheit, die Sachverständige zu befragen, wie ihre Beurteilung unter Einbeziehung der genannten Unterlagen ausfällt. Hiervon hat die Klägerin nur teilweise Gebrauch gemacht. Entscheidend ins Gewicht fällt, dass das Verwaltungsgericht sich in dem Urteil mit den von der Klägerin angeführten Unterlagen auseinandergesetzt hat und diesen keine ausschlaggebende Bedeutung zuerkannt hat. Hiervon ausgehend kann in einer Nichtberücksichtigung der von der Klägerin benannten Unterlagen durch die Sachverständige kein Gesichtspunkt gesehen werden, der zu einer mangelnden Verwertbarkeit des Sachverständigengutachtens führen könnte. Ebenso lässt der Umstand, dass das Verwaltungsgericht dem Sachverständigengutachten teilweise nicht gefolgt ist, den von der Klägerin gezogenen Schluss zu, dass die Sachverständige auch in den übrigen Punkten von unzutreffenden Voraussetzungen ausgegangen sei. Das Verwaltungsgericht hat jeweils unter Heranziehung anderer Unterlagen und insbesondere der Ausführungen der Zeugin Sch. geprüft, ob und inwieweit es die Beurteilung der Sachverständigen zugrunde legt.

11 5. Unbegründet ist schließlich die Rüge, das Verwaltungsgericht habe die richterliche Hinweispflicht (§ 86 Abs. 3 VwGO) verletzt, weil es die Klagepartei in der mündlichen Verhandlung nicht darauf aufmerksam gemacht habe, dass es bezüglich der Instandsetzungen der Sachverständigen lediglich teilweise, nämlich nur bis zu einer Höhe von 15 200,28 Mark, und hinsichtlich des Zeitwertes aber ohne Einschränkungen ihr komplett folge. Dann hätte es von Seiten der Klägerin eine weitere Befragung der Sachverständigen und der sachverständigen Zeugin Sch. gegeben. Hätte das Gericht darauf hingewiesen, dass es entgegen seiner ersten Entscheidung vom 24. April 2006 die Voraussetzungen des § 1 Abs. 2 VermG nach dem Gutachten und trotz der Vernehmung der Sachverständigen nunmehr als gegeben ansehe, wären die Beweisanträge in der mündlichen Verhandlung nicht hilfsweise gestellt worden.

12 Die Hinweispflicht konkretisiert den Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs (§ 108 Abs. 2 VwGO) und zielt mit dieser Funktion insbesondere auf die Vermeidung von Überraschungsentscheidungen ab (Urteil vom 11. November 1970 - BVerwG 6 C 49.68 - BVerwGE 36, 264 <266 f.>). Das Gericht darf daher seine Entscheidung nicht auf Tatsachen oder Rechtsgründe stützen, die für einen Beteiligten überraschend sind. Ein solches Überraschungsurteil liegt hier jedoch nicht vor. Es kann keine Rede davon sein, dass das Verwaltungsgericht mit der nur teilweisen Übernahme der Feststellungen der Sachverständigen zu den notwendigen Instandsetzungen bis dahin nicht erörterte Gesichtspunkte zur Grundlage seiner Entscheidung gemacht und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gegeben hat, mit dem die Klägerin nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens nicht hätte rechnen müssen. Das Gutachten der Sachverständigen G. wurde erst nach Aufhebung des Urteils des Verwaltungsgerichts vom 26. April 2006 am 15. März 2008 angefertigt. Es war Gegenstand der mündlichen Verhandlung vom 16. Juli 2008. Die Sachverständige wurde zur Erläuterung ihres Gutachtens ausführlich vernommen. Anhand der Fragen des Gerichts zur Restnutzungsdauer des Gebäudes und dem Instandsetzungsbedarf im Einzelnen bedürfte es keines Hinweises des Vorsitzenden Richters, dass die Feststellungen des Gutachtens für seine Entscheidung Bedeutung erlangen könnten und in welchem Umfang. Die anwaltlich vertretene Klägerin konnte nach dem Verlauf der mündlichen Verhandlung nicht damit rechnen, dass das Urteil des Verwaltungsgerichts auf derselben Grundlage wie das Urteil vom 26. April 2006 gefällt wird. Inhalt der Hinweispflicht des § 86 Abs. 3 VwGO ist es nicht, einen anwaltlich vertretenen Kläger in allen möglichen oder denkbaren materiellen Richtungen zu beraten (Beschluss vom 14. Februar 1984 - BVerwG 3 B 111.81 - Buchholz 310 § 86 Abs. 3 VwGO Nr. 34). Das Verwaltungsgericht ist nicht verpflichtet, seine beabsichtigte Entscheidung bzw. die sie tragende Rechtsauffassung schon vor der Urteilsberatung festzulegen und in der mündlichen Verhandlung zur Erörterung zu stellen (Beschluss vom 27. November 1979 - BVerwG 7 B 195.79 - Buchholz 310 § 104 VwGO Nr. 12).

13 Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2, § 162 Abs. 3 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 i.V.m. § 52 Abs. 1 und 3 GKG.