Urteil vom 26.04.2006 -
BVerwG 1 D 4.05ECLI:DE:BVerwG:2006:260406U1D4.05.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Urteil vom 26.04.2006 - 1 D 4.05 - [ECLI:DE:BVerwG:2006:260406U1D4.05.0]

Urteil

BVerwG 1 D 4.05

  • VG Stuttgart - 15.12.2004 - AZ: VG DB 23 K 4/04

In dem Disziplinarverfahren hat das Bundesverwaltungsgericht, Disziplinarsenat,
in der nichtöffentlichen Hauptverhandlung am 26. April 2006,
an der teilgenommen haben:
Vorsitzender Richter am Bundesverwaltungsgericht Albers,
Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Müller,
Richterin am Bundesverwaltungsgericht Heeren,
Posthauptsekretär Nickees und
Bundesbahnbetriebsassistent Kater
als ehrenamtliche Richter
sowie
Postdirektor ...
als Vertreter der Einleitungsbehörde,
Rechtssekretär ...,
als Verteidiger
und
...
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,
für Recht erkannt:

  1. Die von der Einleitungsbehörde fortgeführte Berufung des Bundesdisziplinaranwalts gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts ... vom 15. Dezember 2004 wird zurückgewiesen.
  2. Die Kosten des Berufungsverfahrens einschließlich der dem Postbetriebsassistenten a.D. ... hierin erwachsenen notwendigen Auslagen werden dem Bund auferlegt.

Gründe

I

1 1. Mit Anschuldigungsschrift vom 24. Juli 2003 hat der Bundesdisziplinaranwalt dem am ... in ..., Kreis ..., geborenen und zum 30. September 2004 in den Ruhestand versetzten Ruhestandsbeamten zur Last gelegt, dadurch ein Dienstvergehen begangen zu haben, dass er
1. in seiner Eigenschaft als Briefzusteller im Zeitraum April bis Juli 2001 beim Zustellstützpunkt ... in mindestens 13 Fällen von ihm eingezogene Gelder (Nachnahmebeträge) über insgesamt 3 337,17 DM nicht abgerechnet, sondern für sich verbraucht hat,
2. nach einer vom 10. Dezember 1985 bis 3. Juni 1986 durchgeführten erfolgreichen Alkoholentwöhnungskur und anschließender disziplinarischer Belehrung (am 1. August 1986) seit 1995 durch massiven Alkoholkonsum erneut rückfällig geworden ist mit der dienstlichen Folge, dass er in den Zeiträumen
- 16. Februar 1999 bis 11. Mai 1999, - 24. April 2001 bis 9. Mai 2001, - 30. August 2001 bis 7. September 2001, - 1. Oktober 2001 bis 26. November 2001 und - 9. Dezember 2002 bis 24. März 2003
aufgrund von notwendigen Kurz- bzw. Langzeittherapien keinen Dienst leisten konnte.

2 2. Das Verwaltungsgericht ..., auf das die Sache vom früheren Bundesdisziplinargericht, Kammer III - ... -, übergegangen war, hat durch Urteil vom 15. Dezember 2004 entschieden, dass das Ruhegehalt des Ruhestandsbeamten auf die Dauer eines Jahres um 1/50 gekürzt wird. Von den dem Ruhestandsbeamten auferlegten Kosten des Verfahrens hat es die Kosten des im Untersuchungsverfahren eingeholten Sachverständigengutachtens ausgenommen und diese dem Bund auferlegt. Zur Begründung hat das Gericht u.a. ausgeführt, es sei erwiesen, dass der Ruhestandsbeamte, entsprechend dem Vorwurf im Anschuldigungspunkt 2, eine schwere schuldhafte Dienstverfehlung dadurch begangen habe, dass er als noch aktiver Beamter nach einer erfolgreichen Alkoholentwöhnungskur (Ende 1985 bis Mitte 1986) rückfällig geworden sei und deshalb in den bezeichneten verschiedenen Zeiträumen wegen notwendiger Kurz- und Langzeittherapien schuldhaft keinen Dienst geleistet habe. Zu den dienstlichen Auswirkungen eines Rückfalls in die Alkoholsucht gehöre auch die dienstliche Abwesenheit infolge Durchführung erneuter Entziehungskuren oder Entgiftungsbehandlungen. Diese Dienstverfehlung (§ 54 Satz 1 BBG) rechtfertige als Disziplinarmaßnahme die Kürzung des Ruhegehalts. Mildernd sei dabei zu berücksichtigen, dass der damals noch aktive Beamte weiterbeschäftigt worden sei.

3 Der Vorwurf im Anschuldigungspunkt 1 könne dem Ruhestandsbeamten nicht zur Last gelegt werden. Er habe zwar objektiv eine weitere schwere Dienstverfehlung im Kernbereich der ihm obliegenden Dienstpflichten dadurch begangen, dass er wiederholt auf dienstlich anvertraute Geldbeträge in Höhe von insgesamt etwa 3 337 DM zugegriffen und diese vorübergehend für sich verwendet habe. Unabhängig von der Frage nach dem Vorliegen des Milderungsgrunds der freiwilligen Offenbarung der Tat vor ihrer Entdeckung sei insoweit jedoch eine Schuld des Ruhestandsbeamten im Untersuchungsverfahren nicht nachgewiesen worden und lasse sich auch heute nicht mehr nachweisen. Der fachärztliche Gutachter habe bei der mündlichen Erläuterung seines Gutachtens erklärt, dass er konkrete Anhaltspunkte für die Annahme eines Vollrausches zu den fraglichen Zeitpunkten zwar nicht gehabt habe, dass es typischerweise in so gelagerten Fällen aber möglich sei, dass eine unkontrollierte Wegnahme von Geld unter Alkoholeinfluss nicht gänzlich auszuschließen sei. Deshalb könnten dem Ruhestandsbeamten die Unterschlagungen disziplinarrechtlich nicht zur Last gelegt werden. Unter Berücksichtigung des Gewichts der Dienstverfehlung und der vom Ruhestandsbeamten in der mündlichen Verhandlung geschilderten finanziellen Lage, die als sehr angespannt zu werten sei, sei eine Kürzung des Ruhegehalts auf die Dauer von lediglich einem Jahr in Höhe von 1/50 disziplinarrechtlich geboten. Eine darüber hinausgehende Kürzung sei unangemessen, weil die für die Kürzung maßgeblichen wirtschaftlichen Verhältnisse des Ruhestandsbeamten nach Lage der Dinge von dem Durchschnittsmaß der wirtschaftlichen Verhältnisse bei Beamten derselben Laufbahngruppe wesentlich abwichen.

4 Es sei unbillig, den Ruhestandsbeamten auch mit den Kosten des nervenärztlichen Gutachtens zu belasten; denn die fachärztliche Untersuchung sei zu seinen Gunsten ausgegangen.

5 3. Hiergegen hat die Einleitungsbehörde rechtzeitig Berufung eingelegt mit dem Antrag, unter Aufhebung des angefochtenen Urteils auf eine Kürzung des Ruhegehalts in Höhe von 1/50 auf die Dauer von drei Jahren zu erkennen und eine Billigkeitsentscheidung über die Kosten des Verfahrens einschließlich des Untersuchungsverfahrens zu treffen. Zur Begründung macht sie im Wesentlichen geltend, sowohl hinsichtlich der Milderungsgründe und Schuldfeststellungen als auch hinsichtlich der Kostenentscheidung seien ernsthafte Zweifel an der Richtigkeit des Urteils gegeben. Die Weiterbeschäftigung des Ruhestandsbeamten stelle trotz der ihm vorgeworfenen schweren Dienstverfehlung keinen Milderungsgrund dar. Die Frage der weiteren Tragbarkeit eines Beamten im öffentlichen Dienst sei allein von den Disziplinargerichten zu beurteilen. Die Weiterbeschäftigung sei disziplinarrechtlich nicht von Bedeutung und deshalb auch nicht mildernd zu bewerten. Im Anschuldigungspunkt 1 komme dem Ruhestandsbeamten allein der Milderungsgrund der freiwilligen Offenbarung der Verfehlung vor Tatentdeckung zugute, weshalb eine Aberkennung des Ruhegehalts ausscheide. Der Auffassung der Vorinstanz, unabhängig von der Frage des Vorliegens des Milderungsgrundes der freiwilligen Offenbarung der Tat vor ihrer Entdeckung sei dem Ruhestandsbeamten im Untersuchungsverfahren nicht nachgewiesen worden, dass er damals schuldfähig gewesen sei - Schuldfähigkeit lasse sich rückblickend auch heute nicht mehr nachweisen -, könne nicht gefolgt werden. Das im Rahmen der Untersuchung eingeholte fachärztliche Gutachten komme bezüglich der Tatvorwürfe zum Ergebnis, dass eine erheblich verminderte Schuldfähigkeit im Sinne des § 21 StGB, nicht aber Schuldunfähigkeit im Sinne des § 20 StGB vorgelegen habe. Der Gutachter habe Anhaltspunkte für eine aufgehobene Steuerungsfähigkeit oder eine erheblich eingeschränkte oder aufgehobene Unrechtseinsicht nicht feststellen können. Ebenso wenig ergäben sich auf der Basis der bekannten Tatsachen Anhaltspunkte für die Annahme eines Vollrausches und damit verbunden eine aufgehobene Steuerungsfähigkeit. Da der Gutachter aber keine tatsächlichen Anhaltspunkte für die Annahme eines Vollrausches gesehen und die Verteidigerin ihren Antrag auf Zeugenvernehmung letztlich für erledigt erklärt habe, könne von einem Vollrausch zu den einzelnen Tatzeitpunkten nicht ausgegangen werden. Dem Ruhestandsbeamten sei nur erheblich eingeschränkte Schuldfähigkeit im Sinne des § 21 StGB zuzubilligen. Schließlich sei es auch sachlich geboten, die gesamten Kosten des Verfahrens dem Ruhestandsbeamten aufzuerlegen.

II

6 Die Berufung der Einleitungsbehörde hat keinen Erfolg.

7 Das Disziplinarverfahren ist nach bisherigem Recht, d.h. auch nach Inkrafttreten des Bundesdisziplinargesetzes am 1. Januar 2002, nach den Verfahrensregeln und -grundsätzen der Bundesdisziplinarordnung fortzuführen (vgl. zum Übergangsrecht z.B. Urteil vom 20. Februar 2002 - BVerwG 1 D 19.01 - NVwZ 2002, 1515).

8 Das Rechtsmittel ist unbeschränkt eingelegt. Die Einleitungsbehörde greift die Würdigung der Vorinstanz zur Frage des Verschuldens an. Die Angriffe betreffen zugleich den subjektiven Disziplinartatbestand des Dienstvergehens. Der Senat hat deshalb den Sachverhalt selbst festzustellen und disziplinarrechtlich zu würdigen.

9 1. Anschuldigungspunkt 2

10 Der Senat geht aufgrund der Einlassungen des Ruhestandsbeamten in der Berufungsverhandlung, soweit ihnen gefolgt werden konnte, dem schriftlichen nervenärztlichen Gutachten vom 12. Oktober 2002 und der in der Hauptverhandlung vor dem Senat wiederholten Anhörung des Sachverständigen Dr. med. ..., Facharzt für Neurologie und Psychiatrie - Psychotherapie, von Folgendem aus:

11 Der alkoholkranke Ruhestandsbeamte unterzog sich von Dezember 1985 bis Juni 1986 einer halbjährigen Entwöhnungsbehandlung. Er wurde „trocken“ entlassen und ist mit Schreiben seines Amtsleiters vom 1. August 1986 auf seine Pflicht zur Erhaltung der wieder gewonnenen Dienstfähigkeit durch alkoholische Enthaltsamkeit, auf die Gefahr, dass jeder erneute Alkoholgenuss zwangsläufig den Rückfall in die Abhängigkeit einleite sowie auf die schwerwiegenden disziplinarrechtlichen Konsequenzen bei einem Rückfall nach erneutem Alkoholgenuss hingewiesen worden. Bis 1992 blieb er trocken. Er wurde jedoch alsbald nach der Heirat (24. Juli 1992) und der Geburt der Tochter (29. August 1992), die, wie er nun von seiner Frau erfuhr, nicht sein leibliches Kind war, wieder rückfällig. Der Ruhestandsbeamte gibt als Ursache für den Rückfall nachvollziehbar an, die genannten Umstände hätten eine Ehekrise zur Folge gehabt und ihn dazu verführt, Trost im Alkohol zu suchen. Der erneute Alkoholkonsum steigerte sich alsbald massiv. Dies ist ausweislich der Feststellungen des Sachverständigengutachtens der Epikrise einer stationären Behandlung (Entgiftung) vom 15. bis 21. September 1994 zu entnehmen und wird dort mit folgenden Stichworten umschrieben: „Seit zwei Jahren erneuter massiver Alkoholabusus (10 Fl. = 5 l Bier täglich und 10 Gläser Schnaps), Gastritis, toxische Hepatitis, beginnende Zirrhose“. Die Entgiftung führte jedoch nicht zur Entwöhnung. Der Verteidiger verwies dazu auf weiter aufgetretene seelische Belastungen: Die Mutter erkrankte an Krebs und starb 1996 an einem Gehirntumor. Sie wurde in der letzten Zeit von dem Ruhestandsbeamten betreut. Die Ehefrau des Ruhestandsbeamten zeigte sich unzufrieden mit der Wohnsituation und der Finanzlage. Die Schenkung eines Grundstücks, in das der Ruhestandsbeamte bereits viel Arbeit investiert hatte, brachte keine Abhilfe. Sie wurde von der Tante wieder rückgängig gemacht. Der Ruhestandsbeamte sah sich auch unter erheblichem Arbeitsdruck. So musste er sich vom 16. Februar bis zum 11. Mai 1999 einer erneuten Entwöhnungsbehandlung unterziehen, die jedoch, auch weil sie nachfolgend nicht therapeutisch abgesichert wurde, nicht lange vorhielt. Schon im April/Mai 2001 und August/September 2001 folgten zwei ein- bzw. zweiwöchige stationäre Entgiftungen. An die letzte schloss sich mit kurzer Unterbrechung vom 1. Oktober bis 26. November 2001 eine abermalige stationäre Entwöhnungsbehandlung an. Trotz des inzwischen eingeleiteten förmlichen Untersuchungsverfahrens wurde der Ruhestandsbeamte während der laufenden Begutachtung durch den Sachverständigen abermals rückfällig, so dass er sich einer weiteren Entwöhnungsbehandlung unterziehen musste, die vom 9. Dezember 2002 bis zum 24. März 2003 währte. Seitdem ist der Ruhestandsbeamte nach eigenen Angaben trocken.

12 Der massive Rückfall in die nasse Phase der Alkoholerkrankung hat zu erheblichen dienstlichen Auswirkungen geführt. Die dienstlichen Abwesenheiten durch stationäre Behandlungen haben im angeschuldigten Zeitraum seit 1995 zusammengerechnet eine Dienstzeit von etwa neun Monaten umfasst, in welcher der damals aktive Beamte keinen Dienst leisten konnte. Damit hat der Ruhestandsbeamte objektiv gegen seine Pflicht aus § 54 Satz 1 BBG verstoßen, sich gesund und dienstfähig zu erhalten.

13 Auch die subjektiven Voraussetzungen eines schuldhaften Pflichtenverstoßes liegen vor. Wie die Teilerfolge der Entwöhnungsbehandlungen zeigen, fehlte dem Ruhestandsbeamten nicht grundsätzlich die Fähigkeit zur Abstinenz. Dies hat der Gutachter überzeugend ausgeführt. Die Einsichtsfähigkeit in die Notwendigkeit der Abstinenz war - wenn auch freilich begrenzt und bei brüchiger Abstinenzmotivation, insbesondere hinsichtlich den Entwöhnungsbehandlungen nachfolgend begleitender therapeutischer Maßnahmen - jedenfalls nicht ausgeschlossen, auch nicht die Steuerungsfähigkeit. Wie der Sachverständige in der Hauptverhandlung vor dem Senat nachvollziehbar dargelegt hat, lässt auch der Rückfall während der Begutachtung im laufenden Untersuchungsverfahren nicht auf einen Ausschluss der Steuerungsfähigkeit schließen. Rückfälle während der besonderen Belastungsphase eines Disziplinar- oder Strafverfahrens seien keine Seltenheit und ließen keine besonderen Rückschlüsse auf die für frühere Zeiträume in Rede stehende Steuerungsfähigkeit zu. Ob eine solche vorgelegen habe, beurteile sich anhand der jeweils gegebenen Gesamtsituation und der individuellen Entwicklung der Alkoholerkrankung zum jeweiligen Zeitpunkt. Hier sei entscheidend, dass sich keine schwerwiegenden organischen und insbesondere keine hirnorganischen Beeinträchtigungen und Hirnfunktionsstörungen hätten feststellen lassen, auch keine Persönlichkeitsveränderungen. Dies korrespondiere mit den Teilerfolgen der Entwöhnungsbehandlung. Das alles lasse nur auf mittelschwere Folgen des Abusus schließen, insbesondere nicht darauf, dass der alkoholkranke Ruhestandsbeamte einem Rückfall hilflos ausgeliefert gewesen sei. Allerdings legten Entzugserscheinungen und - für die Erkrankung symptomatisch - begrenzte Krankheitseinsicht wie auch Unterschätzung des Rückfallrisikos immerhin eine erhebliche Beeinträchtigung der Steuerungsfähigkeit und damit erheblich verminderte Schuldfähigkeit (§ 21 StGB) nahe. Zur Überzeugung des Senats muss dies insbesondere in Belastungssituationen gelten, die mit besonderen Verunsicherungen einhergehen.

14 Der Senat würdigt die Gesamtsituation dahin, dass der erheblich vermindert schuldfähige Ruhestandsbeamte nur fahrlässig, teilweise auch grob fahrlässig gehandelt hat. Beim ersten Rückfall lag die Belehrung schon etwa sechs Jahre zurück. Die Dringlichkeit der Belehrung mag bei ihm infolge des Zeitablaufs ihre Wirkung verloren haben. Auch die lange Zeit der Abstinenz mag zusätzlich zur Fehleinschätzung der Rückfallgefahr beigetragen haben. Andererseits sah er sich kurz nach der Hochzeit erheblichen familiären Belastungen ausgesetzt, die für ihn ganz im Vordergrund gestanden haben und auch sein Selbstwertgefühl beeinträchtigen mussten. Dass der Ruhestandsbeamte seine Dienstpflichten beim ersten Rückfall in die nasse Phase im Blick gehabt, er also mit bedingtem Vorsatz gehandelt hat, schließt der Senat aus. Entsprechendes muss aber auch für die nachfolgenden Rückfälle gelten, die nach weniger wirksamen Behandlungen in kürzeren Abständen stattfanden. Dabei berücksichtigt der Senat insbesondere auch, dass der Ruhestandsbeamte nach eigenen, unwiderlegbaren Einlassungen nicht erneut dienstlich ermahnt worden ist. Den Akten lassen sich Nachweise für eine erneute Belehrung, die derjenigen des Amtsleiters vom 1. August 1986 vergleichbar wäre, nicht entnehmen. Zu entsprechenden Belehrungen hätte aber Anlass bestanden. Die Rückfälle des Beamten konnten während der langen Zeit seit dem ersten Rückfall und insbesondere angesichts der verschiedenen stationären Maßnahmen sowie den damit verbundenen Fehlzeiten der Dienststelle nicht verborgen bleiben.

15 2. Anschuldigungspunkt 1

16 Der Senat geht aufgrund der Einlassungen des Ruhestandsbeamten in der Berufungsverhandlung, soweit ihnen gefolgt werden konnte, dem schriftlichen nervenärztlichen Gutachten vom 12. Oktober 2002 und der in der Hauptverhandlung vor dem Senat wiederholten Anhörung des Sachverständigen Dr. med. ..., Facharzt für Neurologie und Psychiatrie - Psychotherapie, von Folgendem aus:

17 Der dem Ruhestandsbeamten zur Last gelegte Tatvorwurf ist objektiv erfüllt. Noch im aktiven Dienst befindlich hat er im Zeitraum April bis Juli 2001 von ihm eingezogene Nachnahmebeträge in Höhe von insgesamt 3 337,17 DM und die dazugehörigen Belege zunächst einfach in seine Jackentaschen gesteckt und später nicht abgerechnet, sondern privat für sich verbraucht. Insoweit hat der Ruhestandsbeamte in der Hauptverhandlung vor dem Senat sein Geständnis erneuert. In der Tatzeit im Sommer 2001 habe er sich zwischen einer Entgiftungsbehandlung im April 2001 und einer weiteren Entgiftungsbehandlung mit nachfolgender Entwöhnungstherapie im September 2001 befunden. In jener Zeit habe er bereits vor Dienstbeginn und auch während des Dienstes getrunken. Auf dem Heimweg sei er regelmäßig in Gaststätten gegangen, um dort weiter zu trinken. Manchmal habe er einen richtigen „Filmriss“ gehabt. Vor Antritt einer neuen Behandlung habe er sich die von ihm begangenen Unterschlagungen „von der Seele“ reden müssen. Deshalb habe er sich noch vor Entdeckung der Verfehlungen selbst am 19. September 2001 der Dienststelle offenbart.

18 Auch hier hat der Ruhestandsbeamte schuldhaft, nämlich vorsätzlich bei erheblich verminderter Schuldfähigkeit (§ 21 StGB) gehandelt. Insoweit schließt sich der Senat wiederum den überzeugenden Ausführungen des Gutachters an. In seinem Gutachten hat er ausgeführt: Wenn die Gelder unterschlagen worden seien, um die Fortsetzung des Alkoholkonsums zu finanzieren und damit erhebliche Entzugserscheinungen zu vermeiden, sei vom Vorliegen einer erheblich eingeschränkten Steuerungsfähigkeit zu den jeweiligen Tatzeitpunkten auszugehen. Anhaltspunkte für eine aufgehobene Steuerungsfähigkeit oder eine erheblich eingeschränkte oder aufgehobene Unrechtseinsicht ergäben sich insoweit nicht. Retrospektiv lasse sich nur schwer präzise festlegen, wie ausgeprägt die zu den jeweiligen Tatzeitpunkten vorliegenden Alkoholintoxikationen gewesen seien. Ausgehend von den aus seiner Sicht plausiblen Angaben des Ruhestandsbeamten zu seinem Trinkverhalten lasse sich zwar das Vorliegen eines zumindest mittelschweren Rausches zu den jeweiligen Tatzeitpunkten nicht ausschließen. Auf dem Boden der bisher vorhandenen Informationen ergäben sich jedoch keine Anhaltspunkte für das Vorliegen eines Vollrausches. Im Untersuchungsverfahren ist der Ermittlungsführer der vom Sachverständigen aufgeworfenen Frage etwaiger konkreter Anhaltspunkte für einen Vollrausch nicht weiter nachgegangen. Auch das Verwaltungsgericht hat es bei einer Würdigung des schriftlichen Gutachtens bewenden lassen. In der Hauptverhandlung vor dem Senat ist der Sachverständige auf die Tatschilderungen des Ruhestandsbeamten näher eingegangen. Dabei hat er in den gelegentlichen Filmrissen dann keinen ausreichenden Anhaltspunkt für einen Schuldunfähigkeit während der gesamten Tathandlung indizierenden Vollrausch gesehen, wenn das Tatverhalten nicht allein mit dem Einstecken des Geldes in die Jackentasche und dem Vermengen des Geldes mit dort etwa vorhandenen privaten Geldern oder mit dem Verausgaben des Geldes bei einer Zechtour zu umschreiben sei, sondern auch auf die Nichtabrechnung am folgenden Tage abzustellen sei. Werde auch der nächste Tag mit einbezogen, sei ein Vollrausch auszuschließen.

19 Aufgrund dieser Aussage des Sachverständigen hat der Senat den Sachverhalt dahin gewürdigt, dass ein die Schuldfähigkeit des Ruhestandsbeamten ausschließender Vollrausch nicht in Betracht zu ziehen ist: In den Fällen, in denen der Ruhestandsbeamte nach seinem Postgang die Poststelle wieder aufgesucht und sich dort zur Nichtabrechnung der Gelder entschieden hat, ist ein Vollrausch deshalb auszuschließen, weil der Ruhestandsbeamte bis zu diesem Zeitpunkt ein entsprechendes Trinkverhalten nach seinen eigenen Angaben nicht an den Tag gelegt hat. Hat er hingegen nach der Alkoholisierung schon während seines Postganges sogleich einen Gaststättenbesuch anschließen lassen, so mag er zwar gelegentlich einen Vollrausch gehabt haben. Dieser erstreckte sich jedoch nicht auf den gesamten Umfang seines dienstlich relevanten Verhaltens. Dieses wäre mit der Verausgabung vermischter Gelder im Zustand des Vollrausches noch nicht beendet gewesen. Der Ruhestandsbeamte hätte sich immer noch am nächsten Morgen beim Vorfinden nicht abgerechneter Belege in seiner Jackentasche dafür entscheiden können und müssen, diese Belege nunmehr sofort abzurechnen. Erst mit dem Behalten der Belege in der Absicht sie (vorerst) nicht abzurechnen, ist das pflichtwidrige Schieben der Nachnahmebeträge und das darin zu sehende Zugriffsdelikt beendet. Zu diesem Zeitpunkt hätte jedoch ein Vollrausch nicht mehr vorgelegen.

20 Danach ist hier von einem vorsätzlich schuldhaft begangenen Zugriffsdelikt auszugehen. Zum maßgeblichen Zeitpunkt war die Steuerungsfähigkeit nicht vollständig ausgeschlossen. Entsprechendes gilt für die Einsichtsfähigkeit. Dafür spricht auch, dass der Ruhestandsbeamte sich letztlich durch sein Gewissen genötigt sah, endlich reinen Tisch zu machen. Dem Ruhestandsbeamten kommt nach allem lediglich eine erheblich verminderte Schuldfähigkeit entsprechend § 21 StGB zugute, die sich hier - wie noch darzulegen sein wird - auch im Disziplinarmaß auswirken muss.

21 Das zu Anschuldigungspunkt 1 angeschuldigte Nachnahmeschieben erfüllt somit als Zugriff auf dienstlich anvertrautes Geld (insgesamt 3 337,17 DM) in 13 Fällen sowohl in objektiver als auch subjektiver Hinsicht den Tatbestand des § 54 Satz 2 und 3 BBG.

22 3. Nach allem hat sich der Ruhestandsbeamte eines einheitlichen innerdienstlichen Dienstvergehens nach § 54 Satz 1, 2 und 3, § 77 Abs. 1 Satz 1 BBG schuldig gemacht.

23 4. Bei der Bemessung der Disziplinarmaßnahme greifen mehrere Milderungsgründe zu Gunsten des Ruhestandsbeamten ein: Das zu Anschuldigungspunkt 1 festgestellte Fehlverhalten hat er rechtzeitig vor Tatentdeckung freiwillig offenbart und den von ihm angerichteten Schaden sodann auch wieder gutgemacht. Ferner haben die Voraussetzungen entsprechend § 21 StGB vorgelegen. Dies ist hier mit der Folge einer zusätzlichen Milderung der Maßnahme allein schon deshalb zu berücksichtigen, weil bei einem Zugriffsdelikt das Vorliegen des klassischen Milderungsgrundes der „freiwilligen Offenbarung“ den Weg für eine effektive Berücksichtigung aller weiteren Milderungsgründe öffnet. Damit kommt als zulässige Disziplinarmaßnahme gemäß § 5 Abs. 2 BDO von vornherein nur eine Ruhegehaltskürzung (§ 12 Abs. 1, § 9 Abs. 1 BDO) in Betracht. Bei dem zu Anschuldigungspunkt 2 festgestellten Rückfallverhalten sind zwar erhebliche Ausfallzeiten zu verzeichnen. Aber auch hier kommen dem Ruhestandsbeamten eine Reihe von mildernden Gesichtspunkten zugute: Er hat nur fahrlässig im Zustand erheblich verminderter Schuldfähigkeit (§ 21 StGB) gehandelt. Ferner mangelte es nach 1986 an ausreichend intensivem dienstlichen Einwirken auf ein abstinentes Verhalten. Insbesondere aber ist zu seinen Gunsten zu berücksichtigen, dass er mit der freiwilligen Offenbarung des Nachnahmeschiebens zugleich bezweckt hat, auch dem Alkoholmissbrauch ein Ende zu setzen. Insgesamt spricht noch für den Ruhestandsbeamten, dass er seinerzeit schon über eine lange Dienstzeit verfügte sowie straf- und disziplinarrechtlich nicht vorbelastet ist. Noch während des Disziplinarverfahrens ist er dienstlich sehr ordentlich beurteilt worden. Die in der Vorinstanz ausgesprochene Ruhegehaltskürzung ist deshalb weder hinsichtlich der Laufzeit noch in Bezug auf den Kürzungsbruchteil zu beanstanden.

24 5. Dies gilt auch hinsichtlich der erstinstanzlichen Kostenentscheidung. Nach § 113 Abs. 1 Satz 1 BDO sind die Kosten des Verfahrens dem Beamten aufzuerlegen, wenn er verurteilt wird; sie sind jedoch dem Bund teilweise oder ganz aufzuerlegen, soweit es unbillig wäre, den Beamten damit zu belasten. Satz 1 Halbsatz 2 gilt auch, wenn durch Untersuchungen zur Aufklärung bestimmter belastender oder entlastender Umstände besondere Kosten entstanden und diese Untersuchungen zugunsten des Beamten ausgegangen sind (§ 113 Abs. 1 Satz 2 BDO). Diese Billigkeitsregelung hat das Verwaltungsgericht zu Recht zugunsten des finanziell in sehr beengten Verhältnissen lebenden Ruhestandsbeamten angewandt. Denn die fachärztliche Untersuchung durch den Sachverständigen hat zahlreiche Anhaltspunkte für ein Handeln des Ruhestandsbeamten im Zustand verminderter Schuldfähigkeit und damit für ein Vorliegen von Milderungsgründen erbracht.

25 Die zweitinstanzliche Kostenentscheidung beruht auf § 114 Abs. 1 Satz 2, § 115 Abs. 3 Satz 1 BDO.