Beschluss vom 25.10.2002 -
BVerwG 7 B 35.02ECLI:DE:BVerwG:2002:251002B7B35.02.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 25.10.2002 - 7 B 35.02 - [ECLI:DE:BVerwG:2002:251002B7B35.02.0]

Beschluss

BVerwG 7 B 35.02

  • VG Chemnitz - 01.11.2001 - AZ: VG 9 K 2376/97

In der Verwaltungsstreitsache hat der 7. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 25. Oktober 2002
durch die Richter am Bundesverwaltungsgericht
G ö d e l , H e r b e r t und N e u m a n n
beschlossen:

  1. Das Urteil des Verwaltungsgerichts Chemnitz vom 1. November 2001 wird aufgehoben.
  2. Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Verwaltungsgericht zurückverwiesen.
  3. Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
  4. Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 500 000 € festgesetzt.

Die Klägerin begehrt die vermögensrechtliche Rückübertragung mehrerer Grundstücke, die im Mai 1958 nach dem Aufbaugesetz in Anspruch genommen und in Volkseigentum überführt wurden. Das Verwaltungsgericht hat die Klage abgewiesen, weil die Enteignungen keine unlauteren Machenschaften im Sinne des § 1 Abs. 3 VermG dargestellt hätten. Es hat die Revision gegen sein Urteil nicht zugelassen.
Die hiergegen eingelegte Beschwerde der Klägerin ist begründet. Das angefochtene Urteil leidet an einem geltend gemachten Verfahrensfehler (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO). Das Verwaltungsgericht hat seine Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts aus § 86 Abs. 1 VwGO verletzt.
Es durfte seiner Entscheidung nicht ohne weitere Aufklärung des Sachverhalts die Annahme zugrunde legen, die Grundstücke der Klägerin hätten im Zeitpunkt ihrer Inanspruchnahme noch für den dabei angegebenen Zweck einer Verbreiterung der D. Straße verwendet werden sollen, möglicherweise aber auch in ein damit zusammenhängendes Vorhaben "Veränderung der Straßenführung B./A. Straße" einbezogen werden sollen. Das Verwaltungsgericht hatte vielmehr Anlass, der Frage weiter nachzugehen, ob der angegebene Zweck der Enteignung nur vorgeschoben war, um den früheren faktischen Zugriff auf die Grundstücke für die Errichtung eines Sowjetpavillons nachträglich zu "legalisieren". Zur Klärung dieser Frage kamen weitere bei der Beklagten vorhandene Unterlagen in Betracht. Deren Beiziehung musste sich dem Verwaltungsgericht aufdrängen.
Im rechtlichen Ansatz ist das Verwaltungsgericht in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts davon ausgegangen, dass eine Inanspruchnahme nach dem Aufbaugesetz dann eine unlautere Machenschaft im Sinne des § 1 Abs. 3 VermG darstellt, wenn die staatlichen Organe ein den gesetzlichen Bestimmungen grundsätzlich entsprechendes Vorhaben nur vorgeschoben haben, um in Wahrheit zu gänzlich anderen Zwecken das Eigentum an dem Vermögenswert zu erlangen.
In den Bescheiden vom 23. Mai 1958, mit denen die Grundstücke der Klägerin nach dem Aufbaugesetz in Anspruch genommen wurden, ist als Zweck dieser Inanspruchnahme die Verbreiterung der D. Straße bezeichnet. Dem Verwaltungsgericht mussten sich Zweifel daran aufdrängen, dass in diesem Zeitpunkt (noch) beabsichtigt war, die D. Straße in dem hier in Rede stehenden Bereich zu verbreitern und dafür auf die Grundstücke der Klägerin zurückzugreifen. Tatsächlich sind die Grundstücke für ein solches Vorhaben nicht verwendet worden. Sie sind zwar zusammen mit zahlreichen weiteren Grundstücken in den Aufbauplan 1951 "Verbreiterung D. Straße, 1. Bauabschnitt, im Aufbaugebiet Zentrum und Zentraler Bezirk" aufgenommen worden und waren nach dem zugehörigen Verzeichnis für Aufbaumaßnahmen des Jahres 1951 in Anspruch zu nehmen. Diesem Aufbauplan entsprechend ist die D. Straße verbreitert worden, und zwar in engem zeitlichen Zusammenhang mit der Erklärung zum Aufbaugebiet noch im Jahre 1952, jedoch nur in dem Abschnitt nördlich des Platzes ... Südlich dieses Platzes ist die D. Straße nicht verbreitert worden. Das betrifft im Wesentlichen die hier streitigen Grundstücke. Bescheide über die Inanspruchnahme der Grundstücke sind erst im Jahre 1958 für alle Grundstücke gleichzeitig erlassen worden. Nach Lage der Akten sollte dadurch ermöglicht werden, das Eigentum an den tatsächlich bereits in Anspruch genommenen Flächen umzuschreiben, die jeweils nur einen Teil der Vorgärten ausgemacht haben. Dabei sind jedoch Bescheide über die Inanspruchnahme auch bezogen auf die Grundstücke südlich des Platzes ... 1958 erlassen worden, die von der im Jahre 1952 nördlich des Platzes abgeschlossenen Baumaßnahme nicht erfasst gewesen waren.
Die vorgelegten Akten bieten keinen Anhaltspunkt dafür, dass mit der Inanspruchnahme die Verbreiterung der D. Straße nicht nur in dem bereits abgeschlossenen Abschnitt eigentumsrechtlich bereinigt, sondern in einem weiteren Abschnitt in Angriff genommen werden sollte. Dagegen spricht insbesondere, dass auf den Grundstücken der Klägerin auf Initiative und in Verantwortung der SED ein Sowjetpavillon als Gedenkstätte errichtet war, ohne dass eine rechtliche Grundlage für diese Inanspruchnahme privaten Eigentums erkennbar wäre.
Das Verwaltungsgericht hat selbst die Möglichkeit gesehen, dass die in allen Bescheiden als Zweck der Inanspruchnahme angeführte Verbreiterung der D. Straße für den Anschnitt südlich des Platzes ... nicht mehr weiterverfolgt wurde. Es hat insoweit angenommen, diese Grundstücke könnten stattdessen in eine geplante Veränderung der Straßenführung B./A. Straße einbezogen gewesen sein. Es hat sich hierfür auf den Vorbehalt in der Baugenehmigung für den Sowjetpavillon gestützt, die nach dem Beginn der zunächst nicht genehmigten Errichtung erteilt worden war und den Vorbehalt eines Widerrufs für den Fall enthielt, dass der Pavillon die zukünftige städtebauliche Entwicklung, insbesondere die geplante Straßenführung B./A. Straße, behindere.
Nachdem für das Verwaltungsgericht damit die Annahme erschüttert war, die streitigen Grundstücke könnten nach wie vor für eine Verbreiterung der D. Straße vorgesehen gewesen sein, konnte es seiner Entscheidung nicht ohne weiteres die Annahme zugrunde legen, die streitigen Flurstücke könnten auch für das Projekt "Veränderung der Straßenführung B./A. Straße" vorgesehen gewesen sein. Bevor es sich auf eine solche Vermutung stützte, hätte es sämtliche Möglichkeiten ausschöpfen müssen, die Planung in dem hier interessierenden Bereich aufzuklären.
Hierfür waren bei der Beklagten weitere Unterlagen vorhanden. Sie hatte mit Schriftsatz vom 27. März 2001 dem Verwaltungsgericht mitgeteilt, welche Unterlagen zum Bau des Sowjetpavillons und zum Aufbaugebiet D. Straße im Stadtarchiv ... vorhanden waren. Aus diesem umfangreichen Bestand übersandt hatte die Beklagte nur die Akte "Inanspruchnahme von Grundstücken zur Verbreiterung der D. Straße (1951 - 1959)". Diese Akte (Signatur 4633 des Stadtarchivs) enthält zwar die Inanspruchnahmebescheide für die hier streitigen Grundstücke, befasst sich aber daneben im Wesentlichen nur mit der Verbreiterung der D. Straße zwischen H.straße und dem früheren ... Platz (später Platz ...). Diese Akte enthält insbesondere keine Angaben zur Verkehrsplanung im Bereich südlich des ... Platzes (Platzes ...), in dem die hier streitigen Grundstücke liegen. Beigezogen hat das Verwaltungsgericht nur die Bauakte für den Sowjetpavillon (Signatur 4965 des Stadtarchivs), die insoweit jedoch unergiebig ist. Wegen der Unergiebigkeit der vorliegenden Unterlagen einerseits, der (auch dadurch genährten) deutlichen Zweifel an der Ernsthaftigkeit des angegebenen Enteignungszwecks andererseits musste sich dem Verwaltungsgericht auch ohne entsprechenden Beweisantrag aufdrängen, die nach ihrer Bezeichnung offenbar einschlägigen Akten "Grundakte der Städtebaulichen Planung ... 1952" (Signatur 11120), "Innenstadtvorhaben 1954 - 64" (Signatur 11213) sowie "Bauvorhaben Stadtzentrum 1946 - 54" (Signatur 11589) beizuziehen.
Weil die Beschwerde danach bereits mit dieser Rüge Erfolg hat, kommt es auf die Begründetheit der weiter erhobenen Verfahrensrügen nicht an.
Der Senat macht von der Möglichkeit Gebrauch, wegen des Verfahrensfehlers die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Verwaltungsgericht zurückzuverweisen (§ 133 Abs. 6 VwGO).
Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf § 14 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3, § 13 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 GKG.