Beschluss vom 25.03.2003 -
BVerwG 4 B 9.03ECLI:DE:BVerwG:2003:250303B4B9.03.0

Beschluss

BVerwG 4 B 9.03

  • VGH Baden-Württemberg - 08.11.2002 - AZ: VGH 3 S 107/02

In der Verwaltungsstreitsache hat der 4. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 25. März 2003
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht
Dr. P a e t o w und die Richter am Bundesverwaltungsgericht H a l a m a und Prof. Dr. R o j a h n
beschlossen:

  1. Die Beschwerde der Beklagten gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des
  2. Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 8. November 2002 wird zurückgewiesen.
  3. Die Beklagte trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
  4. Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 15 000 € festgesetzt.

Die auf § 132 Abs. 2 Nr. 1 und 2 VwGO gestützte Beschwerde ist unbegründet.
1. Die Divergenzrüge greift nicht durch.
Das Berufungsgericht hat keinen Rechtssatz aufgestellt, der in Widerspruch zu der Rechtsauffassung steht, die der Senat im Urteil vom 10. September 1976 - BVerwG 4 C 39.74 - (NJW 1977, 400) vertreten hat. Es hat sich auf den Standpunkt gestellt, dass § 17 Abs. 1 Satz 2 BauGB auch dann anwendbar ist, wenn den Gegenstand einer ersten Zurückstellung die Bauvoranfrage für das Bauvorhaben eines Dritten bildete, das mit dem - später genehmigten - Vorhaben des Grundstückseigentümers nicht identisch war und über die Grundstücksgrenzen hinausreichte.
Der Senat hat sich mit der vom Berufungsgericht angesprochenen Problematik im Urteil vom 10. September 1976 nicht auseinander gesetzt. Die Beklagte weist selbst zutreffend darauf hin, dass es in dieser Entscheidung vorrangig um die Frage ging, ob die Zurückstellungszeit nach § 17 Abs. 1 Satz 2 BauGB individuell oder im gesamten Bereich der Veränderungssperre anzurechnen ist. Der Senat trat der seinerzeit von namhaften Autoren vertretenen Ansicht entgegen, dass sich durch die nach § 17 Abs. 1 Satz 2 BauGB gebotene Anrechnung die Dauer der Veränderungssperre allgemein verkürze. Er ließ sich dabei von der Erkenntnis leiten, dass die Zurückstellung und die Veränderungssperre trotz ihrer unterschiedlichen Rechtsnatur insofern übereinstimmen, als sich aus beiden vorübergehende Beschränkungen der Bodennutzung ergeben. Die Veränderungssperre erzeugt die in § 14 Abs. 1 BauGB bezeichneten Sperrwirkungen kraft des normativen Geltungsanspruchs, der ihr als Satzung nach § 16 Abs. 1 BauGB zukommt. Die Zurückstellung hat nach § 15 Abs. 1 BauGB zur Folge, dass die Entscheidung über die Zulässigkeit eines Einzelvorhabens ausgesetzt wird. In der Rechtsprechung geklärt ist, dass der Zurückstellung eines Baugesuchs im Sinne dieser Vorschrift die Zurückstellung einer Bauvoranfrage gleichsteht (vgl. BVerwG, Urteil vom 11. November 1970 - BVerwG 4 C 79.68 - NJW 1971, 445). § 17 Abs. 1 Satz 2 BauGB, der an § 15 Abs. 1 BauGB anknüpft, beruht auf der Überlegung, dass die für die Veränderungssperre maßgeblichen allgemeinen Fristbestimmungen in den Fällen einer Ergänzung bedürfen, in denen ein Grundstückseigentümer oder Bauwilliger schon vor der satzungsrechtlichen Anordnung einer Veränderungssperre durch die Zurückstellung seines Baugesuchs daran gehindert wird, von den Nutzungsmöglichkeiten Gebrauch zu machen, zu denen das materielle Baurecht an sich Gelegenheit bietet. Wie aus dem Senatsurteil vom 10. September 1976 erhellt, lässt sich den Interessen des durch eine solche Maßnahme Betroffenen dadurch hinlänglich Rechnung tragen, dass der Beginn der Geltungsdauer der Veränderungssperre zu seinen Gunsten individuell vorverlegt wird (seitdem stRspr; vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 27. April 1992 - BVerwG 4 NB 11.92 - und vom 30. Oktober 1992 - BVerwG 4 NB 44.92 - Buchholz 406.11 § 17 BauGB Nr. 5 und 6). Soweit in der Entscheidung vom 10. September 1976 davon die Rede ist, "dass eine vorangegangene Zurückstellung (oder eine ihr entsprechende faktische Zurückstellung) demjenigen und nur demjenigen gutzubringen ist, dem sie auferlegt wurde", lässt diese Wendung nicht die Schlüsse zu, die die Beklagte zieht. Der Senat hat mit dieser Formulierung nicht mehr zum Ausdruck bringen wollen, als dass von der Anrechnungsregel allein derjenige soll profitieren können, der aufgrund einer Zurückstellung schon vor dem Erlass einer Veränderungssperre Nutzungsbeschränkungen hat hinnehmen müssen. Betrifft die Zurückstellung, auf die sich der Eigentümer beruft, nicht sein, sondern ein fremdes Grundstück, so würde eine Anrechnung über das gesetzgeberische Anliegen hinausschießen. § 17 Abs. 1 Satz 2 BauGB würde - mit den Worten des Senats im Urteil vom 10. September 1976 - nachgerade dazu einladen, "im Plangebiet gleichsam auf die Suche (zu gehen), um einen Betroffenen zu finden, dessen Baugesuch in der Vergangenheit verzögerlich behandelt oder rechtswidrig abgelehnt wurde". Hinzu kommt die Einsicht, dass es keine einleuchtende Erklärung dafür gäbe, "weshalb die einen Einzelnen treffende Verzögerung das verkürzen sollte, was später anderen an Dauer einer Veränderungssperre zugemutet werden darf". Diese Ausführungen lassen keinen Zweifel daran aufkommen, dass eine Zurückstellung, die nicht das eigene, sondern ein anderes Grundstück betrifft, als Anrechnungsgrund ausscheidet. Zur Frage, ob § 17 Abs. 1 Satz 2 BauGB anwendbar ist, wenn die Zurückstellung zwar auf dasselbe Grundstück abzielt wie die nachfolgende Veränderungssperre, hiervon gegenständlich aber insofern abweicht, als sie sich auf ein anderes Vorhaben und eine andere Person bezieht, enthält das Senatsurteil vom 10. September 1976 dagegen keine Aussage, von der das Berufungsgericht hätte abweichen können.
2. Die Rechtssache hat nicht die grundsätzliche Bedeutung, die ihr die Beschwerde beimisst.
Die Beklagte hält für klärungsbedürftig, ob "bei der Ermittlung des Zeitraums der Zurückstellung eines Baugesuchs, der gemäß § 17 Abs. 1 Satz 2 BauGB auf die Dauer der Veränderungssperre anzurechnen ist, auch die Zeit zu berücksichtigen (ist), in der das Baugesuch eines Dritten, das ein anderes Vorhaben und noch weitere Grundstücke betrifft, zurückgestellt wurde". Das Berufungsgericht hat diese Frage bejaht. Auch die Literatur ist nahezu einhellig der Auffassung, dass es nicht von der Personen- oder der Vorhabenidentität abhängt, ob § 17 Abs. 1 Satz 2 BauGB dem Grundstückseigentümer zugute kommt oder nicht. Hierfür werden folgende Erwägungen ins Feld geführt: Sowohl bei der Zurückstellung als auch bei der Veränderungssperre handelt es sich um grundstücksbezogene Maßnahmen, die als Inhalts- und Schrankenbestimmungen im Sinne des Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG der Sicherung der Bauleitplanung dienen. Bauantragsteller muss nicht notwendigerweise der Grundeigentümer sein. Wird ein Baugesuch zurückgestellt, so wirkt sich die damit verbundene Nutzungsbeschränkung nachteilig auf den Wert des betroffenen Grundstücks aus, unabhängig davon, wer den Antrag gestellt hat. § 17 Abs. 1 Satz 2 BauGB trägt diesem Umstand Rechnung. Er spricht weder von einem bestimmten Antragsteller noch von einem bestimmten Vorhaben. Die Rede ist von "einem", nicht von "dem" Baugesuch. Diese Offenheit lässt darauf schließen, dass auf die Veränderungssperre jede für ein Grundstück ergangene Zurückstellung ohne Rücksicht auf die Person des Bauantragstellers und das konkret beantragte Vorhaben anrechenbar ist (vgl. Schmaltz, in: Schrödter, Kommentar zum BauGB, 6. Aufl., § 17 Rn. 3; Bielenberg/Stock, Kommentar zum BauGB, Stand November 2000, § 17 Rn. 13; Jäde, in: Jäde/ Dirnberger/Weiss, Kommentar zum BauGB, 3. Aufl., § 17 Rn. 7 a; Gronemeyer, in: Gronemeyer, Kommentar zum BauGB, § 17 Rn. 5; Stüer, in: Hoppenberg, Handbuch des öffentlichen Baurechts, Bauleitplanung, Stand: Dezember 2001, S. 329; Reidt, in: Gelzer/Bracher/Reidt, Bauplanungsrecht, 6. Aufl., Rn. 2764; Schenke, Veränderungssperre und Zurückstellung des Baugesuchs als Mittel zur Sicherung der Bauleitplanung, WiVerw 1994, 253, 285 - 287). Auch Grauvogel (in: Brügelmann, Kommentar zum BauGB, Stand: April 1996, § 17 Rn. 15) neigt dieser Auffassung zu ("spricht manches dafür").
Der Senat hatte bislang keinen Anlass, auf diese Thematik einzugehen. Im Urteil vom 10. September 1976 - BVerwG 4 C 39.74 - (a.a.O.) hat er die von der Beklagten aufgeworfene Frage - wie dargelegt - nicht angesprochen. Auch in der Folgezeit hat er sich hierzu nicht geäußert. Es mag gute Gründe dafür geben, der in der Literatur eindeutig vorherrschenden Meinung zu folgen. Das von der Beklagten erstrebte Revisionsverfahren würde dem Senat insoweit gleichwohl keine Gelegenheit zu einer abschließenden Stellungnahme bieten. Denn auf der Grundlage der vom Berufungsgericht getroffenen Feststellungen hängt der Ausgang des Rechtsstreits letztlich nicht von der Klärung der aufgeworfenen Frage ab. Den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils ist zu entnehmen (Urteilsabdruck S. 3 und S. 16), dass nicht lediglich ein Dritter, sondern auch der Kläger als Grundstückseigentümer Adressat der ersten Zurückstellung war. Trifft das zu, so kann die insoweit zu seinen Lasten getroffene Maßnahme im Rahmen des § 17 Abs. 1 Satz 2 BauGB nicht außer Betracht gelassen werden. Der für eine Anrechnung notwendige Grundstücksbezug wird nicht dadurch in Frage gestellt, dass nicht der Kläger selbst, sondern mit seiner Zustimmung ein Dritter das Vorhaben, das den Gegenstand der Bauvoranfrage bildete, auf dem Grundstück des Klägers und zwei benachbarten Flurstücken auszuführen beabsichtigte.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 14 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 sowie § 13 Abs. 1 Satz 1 GKG.