Beschluss vom 24.01.2003 -
BVerwG 4 B 65.02ECLI:DE:BVerwG:2003:240103B4B65.02.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 24.01.2003 - 4 B 65.02 - [ECLI:DE:BVerwG:2003:240103B4B65.02.0]

Beschluss

BVerwG 4 B 65.02

  • VGH Baden-Württemberg - 01.07.2002 - AZ: VGH 3 S 310/02

In der Verwaltungsstreitsache hat der 4. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 24. Januar 2003
durch die Richter am Bundesverwaltungsgericht
Dr. L e m m e l , H a l a m a und G a t z
beschlossen:

  1. Das Urteil des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 1. Juli 2002 wird aufgehoben.
  2. Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an den Verwaltungsgerichtshof zurückverwiesen.
  3. Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
  4. Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 5 000 € festgesetzt.

I


Der Kläger erstrebt die Erteilung einer Baugenehmigung für eine Maschinenhalle, die er in der nordwestlichen Ecke des ihm gehörenden Grundstücks Flurstück Nr. 28 in der Gemarkung B. errichten will. Das Verwaltungsgericht gab seiner Verpflichtungsklage statt; die Berufung der Beigeladenen zu 1. hatte Erfolg. Zur Begründung stellte das Berufungsgericht darauf ab, dass sich das Vorhaben des Klägers, das planungsrechtlich nach § 34 Abs. 1 BauGB zu beurteilen sei, hinsichtlich der überbaubaren Grundstücksfläche nicht in die Eigenart der näheren Umgebung einfüge. Das Vorhaben, das in einer freien Hanglage zwischen zwei Bauzeilen errichtet werden
solle, würde an seinem Standort eine unerwünschte Hinterlandbebauung einleiten. Gegen die Nichtzulassung der Revision wendet sich der Kläger mit seiner auf sämtliche Zulassungsgründe des § 132 Abs. 2 VwGO gestützten Beschwerde.

II


Die Beschwerde ist lediglich insoweit zulässig und begründet, als sie als Verfahrensfehler einen Verstoß gegen die gerichtliche Aufklärungspflicht (§ 86 Abs. 1 VwGO) rügt. Die übrigen Rügen müssen dagegen erfolglos bleiben.
1. Zu Unrecht beruft sich die Beschwerde auf den Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO).
a) Das Berufungsurteil geht davon aus, dass der Hangbereich zwischen den Bauzeilen entlang der alten Dorfstraße und der Gartenstraße von prägender Bebauung frei sei, weil die vorhandenen primitiven landwirtschaftlichen Nebengebäude baurechtlich nicht genehmigt seien und nicht erhalten bleiben sollten und der dann noch freie Bereich eine so große Fläche umfasse, dass er die planungsrechtliche Situation zwischen den Bauzeilen präge. Die von der Beschwerde aufgeworfene Frage, inwieweit es bei der Bestimmung der Eigenart der näheren Umgebung auf die tatsächlich vorhandenen baulichen Anlagen ankommt, hat der Senat bereits grundsätzlich beantwortet: Maßgebend ist die bestehende Bebauung unabhängig davon, ob sie genehmigt worden ist oder aber in einer Weise geduldet wird, die keinen Zweifel daran lässt, dass sich die zuständigen Behörden mit ihrem Vorhandensein abgefunden haben (vgl. Urteil vom 6. November 1968 - BVerwG 4 C 31.66 - BVerwGE 31, 22 <26>; Urteil vom 14. Januar 1993 - BVerwG 4 C 19.90 - BRS 55 Nr. 175). Außer Betracht zu bleiben haben tatsächlich bestehende Baulichkeiten nur dann, wenn - wie namentlich durch den Erlass von Beseitigungsverfügungen - das Verhalten der zuständigen Behörden klar ergibt, dass ihre Beseitigung absehbar ist (Urteil vom 6. November 1968, a.a.O.). Die Beschwerde zeigt nicht auf, dass diese Rechtsprechung korrektur- oder fortentwicklungsbedürftig ist, sondern wirft dem Berufungsgericht vor, sich nicht an sie gehalten zu haben. Das Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde zielt indessen nicht auf die Prüfung der "Richtigkeit" der vorinstanzlichen Entscheidung. § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO dient nicht dazu, die Bundesrechtskonformität zu sichern.
b) Das Berufungsgericht ist der Auffassung, dass sich ein Vorhaben nicht in die Eigenart der näheren Umgebung einfügt, wenn es den aus der Umgebung ableitbaren Rahmen überschreitet und geeignet ist, bodenrechtlich beachtliche bewältigungsbedürftige Spannungen zu begründen oder zu erhöhen. Das entspricht der Rechtsprechung des Senats (vgl. BVerwG, Beschluss vom 25. März 1999 - BVerwG 4 B 15.99 - BRS 62 Nr. 101 unter Bezugnahme auf das Urteil vom 26. Mai 1978 - BVerwG 4 C 9.77 - BVerwGE 55, 369 ff.). Ein solcher Fall ist gegeben, wenn das Vorhaben die vorhandene Situation in bauplanungsrechtlich relevanter Weise verschlechtert, stört oder belastet. Das Berufungsgericht hat angenommen, dass diese Voraussetzung angesichts der von ihm für maßgeblich erachteten Umgebungsbebauung erfüllt ist. Damit hat es im Revisionszulassungsverfahren sein Bewenden. Wann ein Vorhaben eine vorhandene Ruhelage stört, lässt sich auch dann, wenn es wie hier um eine so genannte Hinterlandbebauung geht, nicht anhand von verallgemeinerungsfähigen Maßstäben feststellen, sondern hängt von den jeweiligen konkreten Gegebenheiten ab (BVerwG, Beschluss vom 25. März 1999, a.a.O.).
2. Soweit sich die Beschwerde auf den Zulassungsgrund des § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO stützt, ist sie unzulässig; denn sie genügt nicht den Darlegungsanforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO. Der Revisionszulassungsgrund der Abweichung liegt nur vor, wenn die Vorinstanz in Anwendung derselben Rechtsvorschrift mit einem ihre Entscheidung tragenden Rechtssatz zu einem in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts aufgestellten ebensolchen Rechtssatz in Widerspruch tritt (vgl. Beschluss vom 20. Dezember 1995 - BVerwG 6 B 35.95 - NVwZ-RR 1996, 712). Der Tatbestand der Divergenz muss in der Beschwerdebegründung nicht nur durch Angabe der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts, von der abgewichen sein soll, sondern auch durch Darlegung der miteinander unvereinbaren Rechtssätze bezeichnet werden. Hieran lässt es die Beschwerde fehlen. Sie arbeitet keine Rechtssätze aus dem vorinstanzlichen Urteil heraus, die von Rechtssätzen aus den Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts vom 4. Oktober 1995 - BVerwG 4 B 68.95 - (BRS 57 Nr. 95) und vom 25. März 1999 (a.a.O.) abweichen. Vielmehr beanstandet sie die unrichtige Anwendung vom Bundesverwaltungsgericht entwickelter und vom Berufungsgericht auch nicht in Frage gestellter Rechtssätze auf den zu entscheidenden Einzelfall. (Behauptete) Subsumtionsfehler sind indes nicht mit einer Divergenz im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO gleichzusetzen.
3. a) Von den Verfahrensrügen greifen weder die Rügen zur angeblich unrichtigen Behandlung des Berufungszulassungsverfahrens noch die Rüge einer unzulässigen "Überraschungsentscheidung" durch.
aa) Der Senat geht davon aus, dass die Beschwerde mit ihrer Kritik, die Vorinstanz hätte die Berufung mangels Vorliegens der Voraussetzungen des § 124 Abs. 2 VwGO nicht zulassen dürfen, einen Verfahrensmangel geltend machen will. Sie übersieht, dass die Zulassungsentscheidung des Berufungsgerichts revisionsgerichtlich nicht überprüfbar ist. Diese hat, auch wenn sie sich als fehlerhaft erweisen würde, bindende Wirkung. Nach § 557 Abs. 2 ZPO in Verbindung mit § 173 VwGO unterliegen der Beurteilung des Revisionsgerichts Entscheidungen, die dem Endurteil der Vorinstanz vorausgegangen sind, nur dann, wenn sie nicht unanfechtbar sind. Gerade dies trifft aber, wie aus § 152 Abs. 1 VwGO zu ersehen ist, für die Berufungszulassung nicht zu (BVerwG, Beschluss vom 23. April 1998 - BVerwG 4 B 40.98 - BRS 60 Nr. 178). Die Rüge, das Berufungsgericht habe zu Unrecht auf eine nähere Begründung seiner Zulassungsentscheidung verzichtet, führt ebenfalls nicht zur Zulassung der Revision wegen eines Verfahrensfehlers. Dabei kann der Senat unterstellen, dass das Berufungsgericht mit der Bezugnahme auf die Darlegungen der Beigeladenen in ihren Anträgen auf Zulassung der Berufung die gesetzliche Vorgabe in § 124 a Abs. 5 Satz 2 VwGO, wonach der Zulassungsbeschluss kurz begründet werden soll, nicht eingehalten hat; denn die Beschwerde legt nicht dar, dass die Berufungsentscheidung auf dem Fehlen der von ihr vermissten Begründung beruhen kann. Aus demselben Grund kann die Revision auch nicht gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zur Klärung der Frage zugelassen werden, welche Anforderungen § 124 a Abs. 5 Satz 2 VwGO an Inhalt und Umfang der Begründung eines Zulassungsbeschlusses stellt.
bb) Die Beschwerde meint, das Berufungsgericht habe dem Kläger durch eine unzulässige "Überraschungsentscheidung" das rechtliche Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) abgeschnitten. Eine Überraschungsentscheidung liegt vor, wenn das Gericht einen bis dahin nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt zur Grundlage seiner Entscheidung macht und damit - unter Verletzung seiner ihm obliegenden Hinweis- und Erörterungspflicht - dem Rechtsstreit eine Wende gibt, mit der die Beteiligten nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens nicht zu rechnen brauchten. Dafür ist vorliegend nichts ersichtlich. Die vom Berufungsgericht im Vorfeld seiner Entscheidung angeblich nicht erörterte Frage, unter welchen Voraussetzungen § 34 Abs. 1 BauGB eine Hinterlandbebauung erlaubt, ist vom Verwaltungsgericht angesprochen worden (UA S. 11 f.). Dessen Wertung, das umstrittene Vorhaben halte sich im Rahmen der Umgebungsbebauung und führe auch nicht dazu, dass eine die bisherige Situation deutlich verändernde, noch weitergehende Verdichtung zu befürchten wäre, haben die Beigeladenen in ihren Anträgen auf Zulassung der Berufung und
in ihren Berufungsbegründungen widersprochen. Indem das Berufungsgericht unter Bezugnahme auf die Darlegungen in den Zulassungsanträgen die Berufung wegen Zweifeln an der Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils zugelassen hat, hat es allen Verfahrensbeteiligten signalisiert, es werde die Frage, ob sich das Vorhaben des Klägers nach der Grundstücksfläche, die überbaut werden soll, in die Eigenart der näheren Umgebung einfügt, möglicherweise im Sinne der Beigeladenen beantworten. Davor, dass es dies im Berufungsurteil dann auch tatsächlich getan hat, schützt das Verbot einer Überraschungsentscheidung nicht (vgl. BVerwG, Beschluss vom 11. Februar 2002 - BVerwG 4 B 57.01 -).
b) Erfolg hat die Beschwerde dagegen mit ihrer Rüge, das Berufungsgericht habe den Sachverhalt entgegen § 86 Abs. 1 VwGO nicht hinreichend aufgeklärt. Sie hält dem Gericht zu Recht vor, diejenigen Tatsachen, auf die es nach dessen eigener materiellrechtlichen Rechtsauffassung ankommt, nicht vollständig erforscht zu haben. Die Vorinstanz hat die Vereinbarkeit des zur Genehmigung gestellten Bauvorhabens mit § 34 Abs. 1 BauGB mit der Begründung verneint, dass der Hangbereich zwischen den Bauzeilen entlang der alten Dorfstraße und der Gartenstraße von prägender Bebauung frei sei, weil "die" vorhandenen primitiven landwirtschaftlichen Nebengebäude baurechtlich nicht genehmigt seien und nicht erhalten bleiben sollten und der dann noch freie Bereich eine so große Fläche umfasse, dass er die planungsrechtliche Situation zwischen den Bauzeilen präge. Nach ihrer Rechtsauffassung kam es mithin entscheidungstragend darauf an, dass sämtliche Nebengebäude - von der tiefer gelegenen und deshalb außer Betracht zu lassenden Maschinenhalle auf dem Flurstück 26 abgesehen - ungenehmigt sind und beseitigt werden sollen. Ausweislich der Niederschrift über die Einnahme des Augenscheins setzt sich der vom Berufungsgericht als maßgeblich angesehene Bestand an Nebengebäuden aus einem landwirtschaftlichen Maschinenschup-
pen auf dem Grundstück des Klägers an der Grenze zum Flur-stück 2117, einer Überdachung zur Unterstellung landwirtschaftlicher Fahrzeuge an der Grenze zum Flurstück 26 und einem Schuppen zur Lagerung von Brennholz an der Grenze zum Flurstück 27 sowie einem Holzschuppen auf dem Flurstück 2117, einem landwirtschaftlichen Unterstand für Fahrzeuge und Traktoren auf dem Flurstück 2116 und einem kleineren Gartenhaus zur Unterbringung gärtnerischer Geräte in der Mitte des Flurstücks 30 zusammen. Die Aussage, diese Gebäude sollten nicht erhalten bleiben, wird nur durch entsprechende Absichtserklärungen des Klägers in Bezug auf die Überdachung an der Grenze zum Flurstück 26 und des Beigeladenen zu 2 in Bezug auf den Unterstand auf dem Flurstück 2116 gedeckt. Tatsachen, die belegen, dass auch die übrigen Baulichkeiten beseitigt werden sollen, sind weder im Berufungsurteil noch im Protokoll über das Ergebnis des Ortstermins festgestellt. Da das Berufungsurteil auf dem Mangel unzureichender Sachverhaltsermittlung beruhen kann, macht der Senat von der Möglichkeit des § 133 Abs. 6 VwGO Gebrauch, es aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen.
Umfang und Zielrichtung der vom Berufungsgericht nachzuholenden Ermittlungen ergeben sich aus dem Senatsurteil vom 6. November 1968 (a.a.O.), dem sich u.a. entnehmen lässt, dass tatsächlich vorhandene, ungenehmigte Bauten bei der Bestimmung der Eigenart der näheren Umgebung nur dann "hinweggedacht" werden dürfen, wenn ihre zeitnahe Beseitigung sichergestellt ist. Das ist nicht nur der Fall, wenn die zuständige Behörde Beseitigungsverfügungen erlässt oder ankündigt, sondern auch dann, wenn sich die Bauherren bedingungslos zum freiwilligen Abriss verpflichten. Unverbindliche und jederzeit widerrufbare Erklärungen von Bauherren, sie würden ihre illegalen Baulichkeiten demnächst beseitigen, reichen dagegen nicht aus.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten. Die Streitwertentscheidung beruht auf § 14 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3, § 13 Abs. 1 Satz 1 GKG.