Beschluss vom 23.12.2003 -
BVerwG 4 BN 75.03ECLI:DE:BVerwG:2003:231203B4BN75.03.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 23.12.2003 - 4 BN 75.03 - [ECLI:DE:BVerwG:2003:231203B4BN75.03.0]

Beschluss

BVerwG 4 BN 75.03

  • Hessischer VGH - 04.09.2003 - AZ: VGH 3 N 2274/02

In der Normenkontrollsache hat der 4. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 23. Dezember 2003
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. P a e t o w und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. R o j a h n und G a t z
beschlossen:

  1. Die Beschwerde der Antragstellerin gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs vom 4. September 2003 wird zurückgewiesen.
  2. Die Antragstellerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
  3. Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 20 000 € festgesetzt.

Die auf § 132 Abs. 2 Nrn. 1 und 3 VwGO gestützte Beschwerde bleibt erfolglos. Das Beschwerdevorbringen rechtfertigt nicht die Zulassung der Revision.
1. Die Rechtssache hat nicht die grundsätzliche Bedeutung, die ihr die Antragstellerin beimisst.
Die Beschwerde wirft die Frage auf, ob die Antragsgegnerin überhaupt durch eine einseitige Vorgehensweise, nämlich vermittels Festsetzungen eines Bebauungsplans, das zwischen ihr und der Antragstellerin zuletzt durch den gerichtlichen Vergleich vom 4. April 1995 begründete Vertragsverhältnis ändern darf. Die Frage lässt keinen rechtsgrundsätzlichen Klärungsbedarf erkennen. Sie geht von einem Sachverhalt aus, den das Normenkontrollgericht nicht festgestellt hat. Im Übrigen ist die Frage auf die konkreten Umstände des vorliegenden Streitfalles zugeschnitten und deshalb über diesen Fall hinaus keiner verallgemeinerungsfähigen Klärung zugänglich.
Die Beschwerde sieht ferner als grundsätzlich klärungsbedürftig an, ob Fallgestaltungen in den durch das Baugesetzbuch ausgestalteten allgemeinen Beziehungen zwischen einer Gemeinde und einem Grundstückseigentümer denkbar sind, bei denen es der Gemeinde verwehrt ist, mit Hilfe eines Bebauungsplans die Grundstücksbeziehungen zwischen ihr und einem Grundstückseigentümer zu regeln, und welche Voraussetzungen dafür gegeben sein müssen, um den Ausschluss des Satzungsrechts einer Gemeinde nach dem Baugesetzbuch anzunehmen. Auch diese Frage zielt - ungeachtet ihrer allgemeinen Formulierung - auf die besondere Vertragssituation zwischen den Beteiligten und könnte, soweit sie überhaupt entscheidungserheblich wäre, auch nur unter Würdigung der konkreten Gegebenheiten im Einzelfall und nicht in verallgemeinerungsfähiger Weise beantwortet werden.
2. Die erhobenen Verfahrensrügen greifen nicht durch.
2.1 Die Beschwerde macht geltend, das Normenkontrollgericht habe § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO verletzt, indem es - lediglich indirekt - das Satzungsrecht der Antragsgegnerin bejaht habe. Darin liege zwangsnotwendig eine Rechtsschutzverengung zu Lasten der Antragstellerin. Mit der Möglichkeit, eine gemeindliche Satzung nach § 47 VwGO anzugreifen, müsse ein Mindestmaß an tatsächlicher materieller Überprüfung dieser Satzung durch das Gericht in den sich hier grundsätzlich stellenden Fragen korrespondieren, weil anderenfalls die Effektivität des Rechtsschutzes nicht mehr gewahrt sei.
Dieses Vorbringen lässt einen Verstoß gegen § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO nicht erkennen. Nach dieser Vorschrift entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Die "Freiheit", die dieser so genannte Überzeugungsgrundsatz dem Tatsachengericht zugesteht, bezieht sich auf die Bewertung von Tatsachen und Beweisergebnissen, d.h. auf die Bewertung der für die Feststellung des Sachverhalts maßgebenden Umstände (vgl. BVerwG, Beschluss vom 26. Mai 1999 - BVerwG 8 B 193.98 - Buchholz 310 § 108 Abs. 1 VwGO Nr. 4). Darum geht es der Beschwerde jedoch nicht. Sie macht nicht etwa die Verletzung des Grundsatzes der freien richterlichen Beweiswürdigung geltend, sondern erhebt den Vorwurf, das Normenkontrollgericht habe eine entscheidungserhebliche Rechtsfrage nicht erörtert. Damit greift die Beschwerde nicht die Sachaufklärung, sondern den rechtlichen Kontrollmaßstab der Vorinstanz an. Die damit verbundene Urteilskritik kann nicht zum Gegenstand einer Verfahrensrüge (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) gemacht werden.
2.2 Die Beschwerde greift die Feststellung des Normenkontrollgerichts an, dass der von der Antragsgegnerin zu garantierende Lärmschutz für das Grundstück der Antragstellerin bei einer lediglich teilweisen Erhöhung der nördlichen Lärmschutzwand dauerhaft gewährleistet sei, und sieht darin ebenfalls eine Verletzung des Überzeugungsgrundsatzes des § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Die Beschwerde rügt, dass das Normenkontrollgericht sich nicht mit der Frage befasst habe, wie denn nach den Vorstellungen der am Vergleich von 1995 Beteiligten überhaupt die von der Antragsgegnerin zugesagte "dauerhafte Sorge" für die Einhaltung der Lärmgrenzwerte gemäß der 16. BImSchV im Streitfall nachzuweisen sei. Insoweit stelle sich nämlich die Frage, ob dieser Nachweis nur durch eine Messung oder aber auch zulässigerweise durch eine Berechnung erbracht werden könne und ob die hier vom Sachverständigen tatsächlich vorgenommene "Abschätzung" zumindest den Vorgaben einer "Berechnung" genüge.
Auch diese Verfahrensrüge lässt eine Verletzung des Grundsatzes der freien Beweiswürdigung im Sinne von § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO nicht erkennen. Fehler bei der vorinstanzlichen Würdigung der gutachterlichen Untersuchungen des Büros LI zur Lärmbelastung im Plangebiet allgemein und auf dem Grundstück der Antragstellerin im Besonderen zeigt die Beschwerde nicht auf. Sie macht insbesondere nicht geltend, dass die Untersuchungen unvollständig, widersprüchlich oder aus anderen Gründen nicht überzeugend seien oder von unzutreffenden tatsächlichen Voraussetzungen ausgingen. Die Beschwerde macht auch nicht geltend, dass diese Untersuchungen aus anderen Gründen ungeeignet gewesen seien, die Überzeugung des Normenkontrollgerichts in den streitigen Lärmschutzfragen zu stützen. Soweit die Beschwerde Zweifel an dem Ergebnis der Lärmuntersuchungen des Büros LI äußert, bleiben diese unsubstantiiert und genügen nicht der Darlegungslast des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO.
2.3 Die Beschwerde rügt, die vom Normenkontrollgericht zu Lasten der Antragstellerin angewandte "Beweislastregelung" des § 98 VwGO i.V.m. § 444 ZPO verstoße gegen den verfassungsrechtlichen Grundsatz der Effektivität des Rechtsschutzes, weil sie das verfahrensrechtliche Gebot verletze, eine gerichtliche Beweiswürdigung nicht willkürlich, d.h. entgegen Art. 3 Abs. 1 GG und dem Gebot eines fairen Verfahrens (Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK), zu Lasten eines Verfahrensbeteiligten zu treffen. Diese Rüge geht fehl.
Nach dem 1995 zwischen den Beteiligten geschlossenen Vergleich sollte die Abgasbelastung auf dem Grundstück der Antragstellerin vor Beginn der Bauarbeiten und innerhalb von zwei Jahren "nach vollständiger Inbetriebnahme" der B 455 neu von der Antragsgegnerin gemessen werden. Die zweite Messung hat nicht stattgefunden, weil die Antragstellerin nach den insoweit nicht mit Verfahrensrügen angegriffenen tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz den mit der Messung beauftragten Gutachtern den Zutritt zu ihrem Grundstück verweigert hat. Das Normenkontrollgericht hat die Gründe, die die Antragstellerin für ihr Verhalten angegeben hat (vgl. Urteilsabschrift S. 15), im Einzelnen gewürdigt und festgestellt, dass nach Verstreichen der Zwei-Jahres-Frist, die auch dem Bedürfnis der Antragsgegnerin nach Rechtssicherheit dienen sollte, eine vergleichskonforme Messung nicht mehr möglich sei. In den Urteilsgründen heißt es hierzu, dies habe die Antragstellerin zu vertreten mit der Folge, dass nach der allgemeinen Beweisregel des § 444 ZPO der von der Antragsgegnerin zu führende Nachweis der Einhaltung der im Vergleich zugesicherten Abgaswerte als erbracht anzusehen sei.
In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist geklärt, dass die Verwaltungsgerichte im Rahmen der freien Beweiswürdigung den Umstand berücksichtigen dürfen, dass ein Beteiligter vorsätzlich die Aufklärung des Sachverhalts erschwert hat. Geschieht die Vereitelung der Sachaufklärung, obwohl dem Beteiligten die Mitwirkung an der Aufklärung möglich und zumutbar gewesen wäre, kann dies nach § 98 VwGO i.V.m. § 444 ZPO bei der Beweiswürdigung zu seinem Nachteil berücksichtigt werden. Das entspricht einem aus § 444 ZPO abzuleitenden und auch im Verwaltungsverfahren und im Verwaltungsgerichtsprozess Geltung beanspruchenden allgemeinen Rechtsgrundsatz (vgl. BVerwG, Urteil vom 26. April 1960 - BVerwG 2 C 68.58 - BVerwGE 10, 270; stRspr - vgl. BVerwG, Beschluss vom 19. Juni 2000 - BVerwG 1 DB 13.00 - ZBR 2000, 384 <385> sowie Kopp/Schenke, VwGO, 13. Aufl., Rn. 17 zu § 108 - jeweils m.w.N.). Von dieser Möglichkeit hat das Normenkontrollgericht im Streitfall zu Lasten der Antragstellerin Gebrauch gemacht. Die dagegen erhobenen Rügen der Beschwerde zeigen keinen Verfahrensfehler auf.
Die vorinstanzliche Auslegung des im Vergleich von 1995 verwendeten Begriffs der "vollständigen Inbetriebnahme" der B 455 neu verletzt weder gesetzliche Beweisregeln noch allgemeine Erfahrungssätze und ist auch nicht offensichtlich sachwidrig. Das Normenkontrollgericht macht sich den Standpunkt der Antragsgegnerin und des von ihr um Auskunft ersuchten Amts für Straßen- und Verkehrswesen in Wiesbaden zu Eigen, von der Inbetriebnahme einer Straße sei auszugehen, "wenn der Verkehr auf ihr rolle". Dieser Standpunkt ist sachgerecht und nicht willkürlich. Dass das Normenkontrollgericht ihn seinem Urteil zugrunde gelegt hat, stellt entgegen der Beschwerde keine Überraschungsentscheidung dar. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts liegt ein "Überraschungsurteil" vor, wenn das Gericht einen bis dahin nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt zur Grundlage seiner Entscheidung macht und damit dem Rechtsstreit eine Wende gibt, mit der die Beteiligten nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens nicht zu rechnen brauchten (BVerwG, Beschluss vom 23. Dezember 1991 - BVerwG 5 B 80.91 - Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 241 m.w.N.). Die Frage, wann von der Inbetriebnahme einer Straße auszugehen sei, ist ausweislich der Verhandlungsniederschrift über die öffentliche Sitzung des Normenkontrollgerichts am 4. September 2003 Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen. Die anwaltlich vertretene Antragstellerin hatte Gelegenheit, sich hierzu zu äußern. Das Normenkontrollgericht war nicht gehalten, den Beteiligten seinen eigenen Standpunkt in dieser Auslegungsfrage vor der Urteilsverkündung mitzuteilen. Der in den Urteilsgründen enthaltene Hinweis auf Städte, die im Zentrum keinerlei Hinweisschilder auf den Durchgangs- und Fernverkehr haben, ist nicht urteilstragend. Die vom Normenkontrollgericht gewählte Auslegung des Begriffs der "vollständigen Inbetriebnahme" der B 455 neu verletzt daher weder den Anspruch der Antragstellerin auf effektiven Rechtsschutz und Gewährung rechtlichen Gehörs noch den Überzeugungsgrundsatz des § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
Ebenso wenig kann ein Verfahrensfehler des Normenkontrollgerichts darin gesehen werden, dass es die Weigerung der Antragstellerin, den mit der Abgasmessung beauftragten Gutachtern den Zutritt zu ihrem Grundstück zu ermöglichen, als endgültig betrachtet hat und zu dem Ergebnis gekommen ist, dass nach Verstreichen der im Vergleich niedergelegten Zwei-Jahres-Frist eine vergleichskonforme Messung nicht mehr möglich ist. Angesichts der (wiederholten) Weigerung der Antragstellerin, die Messungen vornehmen zu lassen, und mit Rücksicht auf die in den Urteilsgründen (S. 15) genannten Beweggründe der Antragstellerin, ihre Mitwirkung an der Aufklärung der Abgasbelastung ihres Grundstücks zu verweigern, hatte das Normenkontrollgericht keinen Anlass, auf den von der Beschwerde angeführten "Konfliktregelungsmechanismus" näher einzugehen, den der 1995 geschlossene Vergleich für den Fall von Meinungsverschiedenheiten zwischen der Antragstellerin und der Antragsgegnerin vorsieht. Auch in diesem Punkt ergibt sich aus dem Beschwerdevorbringen nicht, dass das Normenkontrollgericht die "immanenten Willkürgrenzen des § 444 ZPO" überschritten und den Überzeugungsgrundsatz des § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO, das prozessuale Willkürgebot (Art. 3 Abs. 1 GG) oder das Gebot des "fairen Prozesses" durch seine Beweiswürdigung zu Lasten der Antragstellerin verletzt haben könnte.
Das Normenkontrollgericht durfte im Übrigen berücksichtigen, dass es der Antragstellerin unbenommen bleibt, bei Vorliegen der einzelnen Voraussetzungen künftig Rechte aus dem 1995 geschlossenen Vergleich gegenüber der Antragsgegnerin geltend zu machen, da diese die dauerhafte Einhaltung der Lärm - und Abgaswerte garantiert habe. Das ist auch dem Einwand der Beschwerde entgegenzuhalten, eine Nachmessung der Abgaswerte vor der von der Antragsgegnerin beabsichtigten teilweisen baulichen Veränderung der Lärmschutzwand auf der nördlichen Seite der B 455 neu besage noch nichts darüber, ob diese Abgaswerte auch nach der beabsichtigten baulichen Veränderung der Lärmschutzwand noch eingehalten werden könnten.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die Streitwertfestsetzung auf § 14 Abs. 1 und 3, § 13 Abs. 1 Satz 1 GKG.