Beschluss vom 23.05.2006 -
BVerwG 7 B 36.06ECLI:DE:BVerwG:2006:230506B7B36.06.0

Beschluss

BVerwG 7 B 36.06

  • VG Leipzig - 20.12.2005 - AZ: VG 3 K 1422/03

In der Verwaltungsstreitsache hat der 7. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 23. Mai 2006
durch die Richter am Bundesverwaltungsgericht Herbert, Krauß und Neumann
beschlossen:

  1. Das Urteil des Verwaltungsgerichts Leipzig vom 20. Dezember 2005 wird aufgehoben.
  2. Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Verwaltungsgericht zurückverwiesen.
  3. Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
  4. Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 16 000 € festgesetzt.

Gründe

I

1 Die Beklagte übertrug einen Miteigentumsanteil an einem Grundstück an die Beigeladenen zurück. Dagegen legte die klagende Eigentümerin, eine kommunale Wohnungs- und Baugesellschaft, Widerspruch ein. Der Widerspruch ging verspätet bei der Beklagten ein. Die Klägerin beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Die Widerspruchsbehörde wies den Widerspruch als verspätet zurück und führte zur Begründung aus, die Klägerin habe die Versäumung der Frist verschuldet.

2 Die dagegen erhobene Klage hat das Verwaltungsgericht abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, die Klage sei unzulässig, da es an einem ordnungsgemäß durchgeführten Vorverfahren fehle. Der Klägerin sei keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren.

II

3 Die Beschwerde ist begründet. Es liegt ein geltend gemachter Verfahrensmangel vor, auf dem die Entscheidung des Verwaltungsgerichts beruhen kann (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO). Dies führt zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das Verwaltungsgericht (§ 133 Abs. 6 VwGO).

4 Das Verwaltungsgericht hat die Klage zu Unrecht als unzulässig abgewiesen. Die Klägerin war ohne Verschulden verhindert, die Widerspruchsfrist einzuhalten. Deshalb ist ihr auf ihren Antrag hin Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren (§ 70 Abs. 2 i.V.m. § 60 VwGO). Dass das Verwaltungsgericht dies verkannt hat, ist ein Mangel des Verfahrens im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO und wird von der Klägerin sinngemäß gerügt.

5 Das Verwaltungsgericht führt in den Gründen seiner Entscheidung zunächst zutreffend aus, unter welchen allgemeinen Voraussetzungen eine Frist im Sinne des § 60 Abs. 1 VwGO unverschuldet versäumt wurde. Danach ist das Verschulden von Hilfspersonen, insbesondere von Büropersonal, einem Beteiligten nicht zuzurechnen. Zurechenbar ist nur das Verschulden des Beteiligten, das darin bestehen kann, dass dieser die Hilfsperson nicht mit der erforderlichen Sorgfalt ausgewählt, angeleitet und überwacht hat sowie durch eine zweckmäßige Büroorganisation, insbesondere auch hinsichtlich der Fristen, der Terminüberwachung und der Ausgangskontrolle das Erforderliche zur Vermeidung von Fristversäumnissen getan hat (stRspr; vgl. u.a. Beschluss vom 4. August 2000 - BVerwG 3 B 75.00 - Buchholz 310 § 60 VwGO Nr. 235). Der Abgang fristwahrender Schriftsätze muss deshalb so kontrolliert und vermerkt werden, dass er zweifelsfrei nachweisbar ist (vgl. Beschluss vom 14. Juli 1988 - BVerwG 2 C 6.88 - Buchholz 310 § 60 VwGO Nr. 156).

6 Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts war danach die Klägerin ohne Verschulden verhindert, die Widerspruchsfrist einzuhalten: Wird bei einem Beteiligten - wie hier bei der Klägerin - ein Fristkalender geführt, anhand dessen vor Ablauf der Frist geprüft wird, ob sich eine mit dem Eingangsvermerk des Empfängers versehene Kopie der fristgebundenen Schreiben bei den Akten befindet, und wird dies in dem Fristkalender ausdrücklich vermerkt, wird damit der fristgerechte Zugang des Schriftsatzes beim Empfänger (und damit natürlich auch dessen Abgang bei dem Absender) zweifellos in nachweisbarer Form kontrolliert. Wird dann bei einer vor Ablauf der Widerspruchsfrist erfolgten Kontrolle festgestellt, dass eine Eingangsbestätigung des Empfängers fehlt, kann der Schriftsatz noch fristwahrend dem Empfänger zugeleitet werden (z.B. per Fax am letzten Tag der Frist). Damit besteht eine - vom Verwaltungsgericht zu Recht für notwendig gehaltene - Ausgangskontrolle, die zusätzlich zu der Übergabe des Schriftsatzes durch die für die Fristwahrung verantwortliche Sachbearbeiterin an die Poststelle bzw. an einen Boten notwendig ist.

7 Hier wurde die Widerspruchsfrist versäumt, weil die Sachbearbeiterin im Fristkalender fälschlicherweise vermerkte, eine Empfangsbestätigung des Beklagten befinde sich auf einer bei den Akten befindlichen Kopie des Widerspruchsschreibens. Ein Verschulden der Klägerin an der Fristversäumung könnte insoweit nur vorliegen, wenn sie die Sachbearbeiterin nicht mit der erforderlichen Sorgfalt ausgewählt, angeleitet oder überwacht hätte. Dies ist nicht der Fall. Die vom Verwaltungsgericht in der mündlichen Verhandlung als Zeugin vernommene Sachbearbeiterin hat Umstände genannt, aus denen sich ergibt, dass sie mit der erforderlichen Sorgfalt ausgewählt, angeleitet und überwacht worden war. Das Verwaltungsgericht hat dies mit der Begründung verneint, es sei nicht glaubhaft gemacht, zu welchem Zeitpunkt die Fristenkontrolle zu erfolgen gehabt hätte (in dem Zeitpunkt, in dem die mit Empfangsbestätigung versehene Kopie des Widerspruchs eingegangen ist, am vorletzten Tag der Widerspruchsfrist oder am letzten Tag der Widerspruchsfrist). Damit überspannt das Verwaltungsgericht die Anforderungen an eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Es reicht aus, dass die Sachbearbeiterin dies innerhalb der Widerspruchsfrist zu kontrollieren hatte. Eine genaue Anweisung, wann innerhalb der Frist die Kontrolle zu erfolgen hat, war nicht notwendig. Auch bei einer Kontrolle am letzten Tag der Frist hätte - wie dargelegt - der Widerspruch noch rechtzeitig der Behörde zugeleitet werden können. Grund für die Fristversäumung war ausschließlich, dass die vorgeschriebene und innerhalb der Frist auch vorgenommene Kontrolle im Einzelfall fehlerhaft erfolgte.

8 Ob die demnach zulässige Klage begründet ist, hat das Verwaltungsgericht - aus seiner Sicht konsequenterweise - nicht geprüft. Der Senat macht deshalb im Interesse der Beschleunigung des Verfahrens von der Möglichkeit des § 133 Abs. 6 VwGO Gebrauch, das angefochtene Urteil ohne vorherige Zulassung der Revision aufzuheben und den Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen.

9 Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 i.V.m. § 52 Abs. 1 Satz 1 GKG.