Beschluss vom 22.07.2016 -
BVerwG 3 B 31.16ECLI:DE:BVerwG:2016:220716B3B31.16.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 22.07.2016 - 3 B 31.16 - [ECLI:DE:BVerwG:2016:220716B3B31.16.0]

Beschluss

BVerwG 3 B 31.16

  • VGH Mannheim - 15.10.2015 - AZ: VGH 5 S 2020/13

In der Verwaltungsstreitsache hat der 3. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 22. Juli 2016
durch die Vorsitzende Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Philipp,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Wysk und
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Kuhlmann
beschlossen:

  1. Auf die Beschwerde des Klägers wird das Urteil des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 15. Oktober 2015 aufgehoben.
  2. Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an den Verwaltungsgerichtshof zurückverwiesen.
  3. Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
  4. Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 60 000 € festgesetzt.

Gründe

I

1 Der Kläger begehrt die Ergänzung des Planfeststellungsbeschlusses des Beklagten vom 19. August 2013 für den Neubau einer Betriebswerkstatt für die ...bahn in K. um zusätzliche Lärmschutzauflagen. Er ist Eigentümer des Grundstücks Flurstück Nr. ..., das im Süden und Südwesten durch die Trassen der ...bahn und der Deutschen Bahn begrenzt wird. Das Grundstück ist u.a. mit einem ehemaligen Bahnwärterhaus bebaut, in dem sich eine vom Kläger genutzte Betriebsleiterwohnung befindet. Der Planfeststellungsbeschluss gestattet dem Beigeladenen, auf dem Flurstück Nr. ..., das westlich des klägerischen Grundstücks zwischen der S- und Eisenbahntrasse und der Trasse der ...bahn liegt (Gerichtsakte Bd. I, 73), eine Betriebswerkstatt zu errichten. Beide Grundstücke liegen im unbeplanten Innenbereich. Das als Teil der Planunterlagen vorgelegte Lärmgutachten vom 5. Dezember 2012 ging davon aus, dass die Richtwerte der TA Lärm für Gewerbegebiete (65 dB(A) tags / 50 dB(A) nachts) auf dem Grundstück des Klägers eingehalten würden. Als maßgebender Immissionsort wurde der vor dem Fenster in der Westfassade / Dachgeschoss des Gebäudes liegende Immissionspunkt 6 angesehen.

2 Der Verwaltungsgerichtshof hat das Grundstück des Klägers und dessen nähere Umgebung in Augenschein genommen. Nach Fortsetzung der mündlichen Verhandlung übergab der Lärmsachverständige des Beigeladenen eine Lärmwertübersicht und zwei Isophonenkarten (Gerichtsakte Bd. I, 435, 437, 439). Die Isophonenkarten weisen für die Südseite des Bahnwärterhauses höhere Pegelwerte aus als für die Westseite.

3 Der Verwaltungsgerichtshof hat die Klage abgewiesen und zur Begründung ausgeführt: Die Lärmimmissionen der Betriebswerkstatt seien dem Kläger zuzumuten, weil die Vorgaben aus § 22 Abs. 1 i.V.m. § 3 Abs. 1 BImSchG und der TA Lärm eingehalten würden. Maßgeblich seien nicht die Richtwerte für ein Mischgebiet, sondern diejenigen für ein Gewerbegebiet (UA S. 17). Der Immissionspunkt 6 sei zu Recht als maßgeblicher Immissionsort angesehen worden; dies entspreche den Vorgaben nach Nr. 2.3 Abs. 1 i.V.m. Nr. A.1.3 Satz 1 a) TA Lärm und werde von den Beteiligten nicht in Frage gestellt. Dass die Nutzung als Betriebsleiterwohnung baurechtlich nicht genehmigt sei, stehe dem nicht entgegen (UA S. 29).

II

4 Die auf die Zulassungsgründe des § 132 Abs. 2 Nr. 2 und 3 VwGO gestützte Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Verwaltungsgerichtshofs hat Erfolg.

5 1. Dass das Urteil des Verwaltungsgerichtshofs von dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 15. Februar 1990 - 4 C 23.86 - (BVerwGE 84, 322) zur Unbeachtlichkeit von Fremdkörpern bei der Beurteilung der Eigenart der näheren Umgebung nach § 34 Abs. 1 und 2 BauGB oder dem Beschluss vom 12. September 2007 - 7 B 24.07 - (juris) zur Bildung von Zwischenwerten nach Nr. 6.7 TA Lärm abweicht, hat die Beschwerde allerdings nicht schlüssig dargelegt. Eine Abweichung im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO von einem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts liegt nur vor, wenn sich die Vorinstanz in Anwendung derselben Rechtsvorschrift mit einem seine Entscheidung tragenden abstrakten Rechtssatz zu einem in der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts aufgestellten ebensolchen Rechtssatz in Widerspruch gesetzt hat (BVerwG, Beschlüsse vom 3. Juni 2008 - 9 BN 3.08 - juris Rn. 2 und vom 9. April 2014 - 2 B 107.13 - Buchholz 310 § 132 Abs. 2 Ziff. 2 VwGO Nr. 20 Rn. 3 m.w.N.). Einen solchen Widerspruch von Rechtssätzen zeigt die Beschwerde nicht auf. Sie macht lediglich geltend, dass der Verwaltungsgerichtshof die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts falsch angewandt habe. Dass er einen von den bezeichneten Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts abweichenden abstrakten Rechtssatz aufgestellt hat, ergibt sich hieraus nicht.

6 2. Unbegründet ist die Rüge, dass das angefochtene Urteil an einem Verfahrensfehler leide, weil der Verwaltungsgerichtshof nicht berücksichtigt habe, dass die Stadt K. die Häuser westlich der ...straße einschließlich des Hauses ...straße 48 als Mischgebiet eingestuft habe. Hierauf kam es nach der für das Vorliegen eines Verfahrensfehlers maßgebenden Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichtshofs nicht an. Der Verwaltungsgerichtshof hat sowohl für die Abgrenzung als auch für die Bestimmung der Eigenart der näheren Umgebung allein auf die tatsächlichen Verhältnisse abgestellt (UA S. 18, 19, 21).

7 3. Der Kläger rügt aber zu Recht, dass der Verwaltungsgerichtshof die in der mündlichen Verhandlung erstmals vorgelegten Isophonenkarten nicht zum Anlass genommen hat, festzustellen, ob sich im Haus des Klägers nach DIN 4109 schutzbedürftige Wohnräume mit nach Süden ausgerichteten öffnungsfähigen Fenstern befinden (Schriftsatz vom 29. Januar 2016 S. 3). Damit hat der Verwaltungsgerichtshof seine Pflicht verletzt, den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen (§ 86 Abs. 1 VwGO). Ausgehend von seiner Rechtsauffassung, dass die Auswahl des maßgeblichen Immissionsorts den Vorgaben nach Nr. 2.3 Abs. 1 i.V.m. Nr. A.1.3 Satz 1 a) TA Lärm zu entsprechen hat (UA S. 29), musste sich ihm die Erforderlichkeit dieser Feststellung auch ohne einen hierauf gerichteten Beweisantrag des Klägers aufdrängen. Nach den genannten Vorschriften der TA Lärm liegt der maßgebliche Immissionsort bei bebauten Flächen 0,5 m außerhalb vor der Mitte des geöffneten Fensters des vom Geräusch am stärksten betroffenen schutzbedürftigen Raumes nach DIN 4109, Ausgabe 1989. Ausweislich der Isophonenkarten dürfte die Südseite des Gebäudes die am stärksten belastete Fassade sein. Dass die schutzbedürftigen Räume auch nach Süden ausgerichtet sein können - nach dem Vortrag des Klägers ist dies u.a. für einen Wohnraum mit Schlafbereich der Fall (Schriftsatz vom 14. Dezember 2015 S. 5) -, lag nach der Inaugenscheinnahme des Gebäudes einschließlich der Innenräume und der Länge der Südseite im Verhältnis zu der mit nur einem Fenster ausgestatteten Westseite nahe.

8 Das Urteil kann auf der Verletzung der Aufklärungspflicht beruhen. Die Isophonenkarte (Gerichtsakte Bd. I, 435) weist für die Südseite des Gebäudes nächtliche Pegelwerte aus, die 50 dB(A) und damit den nach der Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichtshofs maßgebenden Immissionsrichtwert für Gewerbegebiete (Nr. 6.1 b) TA Lärm) übersteigen. Dass die Südseite trotz der Vorbelastung durch Straßen- und Schienenverkehrslärm zu schützen ist, lässt sich auf der Grundlage der im angefochtenen Urteil getroffenen tatsächlichen Feststellungen nicht ausschließen. Zwar ist eine Wohnnutzung gegenüber solchen Immissionen rechtlich nicht geschützt, die nur deshalb erheblich belästigen oder die Gesundheit gefährden, weil sie Wohnräume durch ein baurechtlich nicht genehmigtes und nicht genehmigungsfähiges Fenster erreichen (BVerwG, Urteil vom 24. September 1992 - 7 C 6.92 - BVerwGE 91, 92 <96 f.>; vgl. auch den im vorliegenden Verfahren ergangenen Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs vom 27. Januar 2016 S. 4). Nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichtshofs ist die Nutzung des Gebäudes als Betriebsleiterwohnung baurechtlich nicht genehmigt (UA S. 29). Der Verwaltungsgerichtshof hat im angefochtenen Urteil aber nicht festgestellt, welcher vorhabenunabhängigen Vorbelastung durch Verkehrslärm die Südfassade ausgesetzt ist. Erst im Beschluss vom 27. Januar 2016 hat er unter Bezugnahme auf Anhang 2 der schalltechnischen Untersuchung vom 27. März 2012 dargelegt, dass die Vorbelastung mit einem nächtlichen Wert von 69 dB(A) die in der höchstrichterlichen Rechtsprechung anerkannte grundrechtliche Zumutbarkeitsschwelle von nachts 60 dB(A) überschreite. Selbst eine solche Vorbelastung stünde der bauplanungsrechtlichen Genehmigungsfähigkeit der nach Süden ausgerichteten Wohnräume nach § 34 Abs. 2 BauGB i.V.m. § 8 und § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO nicht von vornherein entgegen. Das in § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO konkretisierte Rücksichtnahmegebot verlangt eine einzelfallbezogene Sichtweise (BVerwG, Urteil vom 23. September 1999 - 4 C 6.98 - BVerwGE 109, 314 <321>). An der bauplanungsrechtlichen Genehmigungsfähigkeit des nach Westen ausgerichteten Fensters hatte der Verwaltungsgerichtshof keine Zweifel (UA S. 29). Auch für diese Fassade weist Anhang 2 der schalltechnischen Untersuchung vom 27. März 2012 aber für die Nacht Beurteilungspegel zwischen 64 und 67 dB(A) aus.

9 Um das Verfahren zu beschleunigen, macht der Senat von der Möglichkeit nach § 133 Abs. 6 VwGO Gebrauch, das angefochtene Urteil bereits im Beschwerdeverfahren aufzuheben und den Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen. Die Gehörsrüge, die auf denselben Sachverhalt wie die Aufklärungsrüge gestützt ist, hat sich damit erledigt.

10 Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf § 47 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 i.V.m. § 52 Abs. 1 GKG.