Beschluss vom 21.12.2010 -
BVerwG 3 B 64.10ECLI:DE:BVerwG:2010:211210B3B64.10.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 21.12.2010 - 3 B 64.10 - [ECLI:DE:BVerwG:2010:211210B3B64.10.0]

Beschluss

BVerwG 3 B 64.10

  • Bayerischer VGH München - 29.04.2010 - AZ: VGH 4 BV 07.998

In der Verwaltungsstreitsache hat der 3. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 21. Dezember 2010
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Kley und
die Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Dr. h.c. Rennert und Buchheister
beschlossen:

  1. Das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 29. April 2010 wird aufgehoben.
  2. Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an den Bayerischen Verwaltungsgerichtshof zurückverwiesen.
  3. Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
  4. Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 25 735,30 € festgesetzt.

Gründe

1 Die Beschwerde hat Erfolg. Zwar kommt der Rechtssache die geltend gemachte grundsätzliche Bedeutung im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO nicht zu. Das Berufungsurteil beruht jedoch auf einem Verfahrensfehler im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO. Der Senat macht deshalb von der durch § 133 Abs. 6 VwGO eröffneten Möglichkeit Gebrauch, die Sache zurückzuverweisen.

2 1. Die Rechtssache hat auf der Grundlage der Darlegungen der Klägerin keine grundsätzliche Bedeutung. Die Klägerin möchte - zusammengefasst - geklärt wissen, unter welchen Voraussetzungen eine Gebührenerhebung nach Anhang A Kap. I Nr. 4 Buchstabe b der Richtlinie 85/73/EWG i.d.F. der Richtlinie 96/43/EG zulässig ist. Sie vertritt die These, dass der Europäische Gerichtshof in seinen Entscheidungen vom 19. März 2009 (C-270/07 und C-309/07) ein „Realkostengebot und Pauschalierungsverbot“ angenommen habe, dem eine Gebührenerhebung nach Anhang A Kap. I Nr. 4 Buchstabe b der Richtlinie nur dann gerecht werde, wenn zunächst allenfalls vorläufige Bescheide über Vorauszahlungen ergingen und nach Ablauf des Rechnungsjahres ein endgültiger Bescheid mit einer „betriebsbezogenen Einzelabrechnung“ der tatsächlich angefallenen Kosten erlassen werde; eine Gebührenerhebung auf der Grundlage im Vorhinein kalkulierter Kosten sei generell unzulässig. Diese Auffassung kleidet sie in verschiedene Fragen.

3 Die These der Klägerin trifft indes nicht zu. Der Europäische Gerichtshof hat in den besagten Entscheidungen (noch einmal) betont, dass die Erhebung einer die Pauschalgebühr übersteigenden spezifischen Gebühr nach Anhang A Kap. I Nr. 4 Buchstabe b der Richtlinie unter der einzigen Voraussetzung steht, dass die Gebühr die tatsächlichen Kosten nicht überschreitet (C-309/07 Rn. 20); sie darf ferner nicht die Form eines Pauschalbetrages annehmen (C-309/07 Rn. 21 und C-270/07 Rn. 30 ff.). Das letztgenannte Kriterium, auf das sich die Klägerin maßgeblich stützt, diente dem Europäischen Gerichtshof ersichtlich nur zur Abgrenzung der spezifischen Gebühr von den EG-Pauschalbeträgen sowie von einer durch Anhebung der Pauschalbeträge gebildeten Gebühr nach Anhang A Kap. I Nr. 4 Buchstabe a der Richtlinie. Er sah sich zu dieser Klarstellung durch Ausführungen der Kommission veranlasst, die seiner Rechtsprechung meinte entnehmen zu können, dass eine Gebühr nach Anhang A Kap. I Nr. 4 Buchstabe b der Richtlinie die Form eines Pauschalbetrages annehmen müsse. Dem ist der Europäische Gerichtshof mit den erwähnten Ausführungen entgegengetreten. Vor dem Hintergrund des Streitgegenstandes jener Verfahren, der jeweils den Ansatz für Kosten bestimmter Fleischuntersuchungen betraf, ist damit ersichtlich nur gemeint, dass eine solche Gebühr nicht wie die EG-Pauschalbeträge unbeschadet des konkreten Untersuchungsumfangs (also pauschal) erhoben werden darf, sondern Kostenanteile für bestimmte Fleischuntersuchungen nur dann in die Gebühr einfließen dürfen, wenn sie tatsächlich angefallen sind.

4 Diese gemeinschaftsrechtliche Vorgabe ändert indes nichts daran, dass es sich um eine „Gebühr“ handelt, deren Höhe auf der Grundlage einer Kostenkalkulation ermittelt wird und nicht etwa durch eine nachträgliche Kostenabrechnung jedes Einzelfalls. Die Vorstellungen der Klägerin sind mit der gemeinschaftsrechtlich und nationalrechtlich vorgesehenen Möglichkeit der Kostendeckung im Wege der Gebührenerhebung nicht vereinbar; sie laufen darauf hinaus, eine Erhebung von Gebühren oberhalb der EG-Pauschalbeträge praktisch unmöglich zu machen.

5 Die These der Klägerin wird auch nicht durch die von ihr angeführte Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen gestützt, das - in Übereinstimmung mit dem Berufungsurteil - eine Gebührenerhebung auf der Grundlage prognostischer Werte ausdrücklich für zulässig erachtet (vgl. nur OVG Münster, Urteil vom 30. September 2009 - 17 A 2609/03 - juris Rn. 92 ff.). Soweit das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen bei der Überprüfung einer konkreten Gebührenkalkulation für den Sonderfall einer nachträglichen Neuberechnung von Gebühren für abgelaufene Zeiträume nicht die durch Zeitablauf obsolet gewordenen Prognosewerte der ursprünglichen Kalkulation, sondern die bereits feststehenden tatsächlich angefallenen Kosten für maßgeblich gehalten hat (Urteil vom 27. Januar 2010 - 17 A 2509/03 - juris Rn. 66), ergibt sich keine Abweichung zu dem Berufungsurteil, die eine Zulassung wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache begründen könnte. Ob prognostische Werte überholt sind und deshalb einer Kalkulation, die sich an den tatsächlichen Kosten orientieren muss, nicht mehr zugrunde gelegt werden dürfen, ist keine verallgemeinerungsfähige Rechtsfrage, sondern eine Frage der Tatsachenwürdigung.

6 Die von der Klägerin weiter angesprochene „einzelbetriebliche Abrechnung“ wirft ebenfalls keine grundsätzlich bedeutsame Frage auf. In der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ist geklärt, dass nach Anhang A Kap. I Nr. 4 Buchstabe b der Richtlinie eine Gebühr erhoben werden kann, die nach der Größe des Betriebs und der Zahl der geschlachteten Tiere unterscheidet, wenn feststeht, dass diese Faktoren sich auf die Kosten auswirken (Urteil vom 19. März 2009 - C-309/07 - Rn. 22). Wenn der Europäische Gerichtshof eine „einzelbetriebliche Abrechnung“ nach den Vorstellungen der Klägerin für erforderlich gehalten hätte, hätte er nicht eine solche Gebührenstaffelung ausdrücklich gebilligt.

7 All dies ergibt sich hinreichend eindeutig aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs. Der Senat sieht deshalb keinen Anlass, das Verfahren nach § 94 VwGO auszusetzen, um abzuwarten, bis der Antrag der Klägerin nach Art. 102 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs auf Auslegung des Urteils vom 19. März 2009 (C-309/07) beschieden worden ist.

8 Aus der von der Klägerin problematisierten „rückwirkenden Richtlinienumsetzung“ ergibt sich ebenfalls keine grundsätzlich klärungsbedürftige Frage. In der Rechtsprechung des Senats ist hinlänglich geklärt, dass europäisches Gemeinschaftsrecht nicht daran hindert, eine erforderliche Umsetzung rückwirkend vorzunehmen (vgl. nur Beschluss vom 10. Juli 2008 - BVerwG 3 B 30.08 - juris Rn. 8 m.w.N.; s. auch BVerfG, Beschluss vom 11. Dezember 2007 - 1 BvR 1792/06 - juris Rn. 15). Neue Aspekte, die etwa eine Vorlage an den Europäischen Gerichtshof rechtfertigen könnten, zeigt die Klägerin nicht auf.

9 2. Das Berufungsurteil leidet aber an einem von der Klägerin mit Recht gerügten Verfahrensmangel im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO. Das Berufungsgericht hat sich seine Überzeugung in verfahrensfehlerhafter Weise gebildet und damit gegen den Überzeugungsgrundsatz (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) verstoßen.

10 Gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Das Gebot der freien Beweiswürdigung verpflichtet u.a. dazu, bei Bildung der Überzeugung von einem zutreffend und vollständig ermittelten Sachverhalt auszugehen. Übergeht das Tatsachengericht wesentliche Umstände, deren Entscheidungserheblichkeit sich ihm hätte aufdrängen müssen, fehlt es an einer tragfähigen Grundlage für die innere Überzeugungsbildung des Gerichts (vgl. nur Beschluss vom 7. Juli 2008 - BVerwG 3 B 110.07 - juris Rn. 3 m.w.N.).

11 Das Berufungsgericht ist davon ausgegangen, dass die Gebühren gemeinschaftsrechtskonform sind, wenn sie im Sinne der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs die tatsächlichen Kosten nicht übersteigen. Es ist deshalb - von diesem materiell-rechtlichen Standpunkt aus konsequent - den Einwänden der Klägerin, die Gebührenkalkulation sei schon deshalb fehlerhaft, weil sie gegen ein „Realkostengebot und Pauschalierungsverbot“ verstoße, nicht gefolgt. Zu der sich anschließenden Frage, ob die Gebühren jedenfalls den von ihm selbst für maßgeblich gehaltenen Kriterien genügen, ob sie also die tatsächlichen Kosten nicht übersteigen, hat das Berufungsgericht (nur) ausgeführt, eine verbotene Kostenüberdeckung oder Gewinnerzielung sei weder vorgetragen noch ersichtlich (Berufungsurteil Rn. 29). Dagegen ist für sich genommen nichts zu erinnern; das Tatsachengericht muss nicht - gleichsam ungefragt - auf Umstände eingehen, deren Prüfung sich ihm nicht aufdrängt und auch nicht durch entsprechende Einwände eines Beteiligten veranlasst ist. Hier kommt indes hinzu, dass das Berufungsgericht, wie es im Urteil selbst ausführt (dort Rn. 23), die Gebührenkalkulation der Beklagten nicht beigezogen hat, obwohl die Klägerin dies wiederholt beantragt hatte. Damit hat es der Klägerin gerade die Möglichkeit verwehrt, substantielle Einwände zu erheben. Die Annahme des Berufungsgerichts, eine Kostenüberdeckung sei weder geltend gemacht noch sonst ersichtlich, verstößt unter diesen Umständen gegen den Überzeugungsgrundsatz.

12 Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 47, 52 Abs. 3 GKG.