Urteil vom 17.12.2003 -
BVerwG 5 C 25.02ECLI:DE:BVerwG:2003:171203U5C25.02.0

Leitsatz:

Kindergeld ist sozialhilferechtlich Einkommen dessen, an den es ausgezahlt wird.

  • Rechtsquellen
    BSHG §§ 76, 107
    EStG §§ 31, 62, 63, 64, 74
    SGB I §§ 48 f.

  • VG Neustadt a. d. Weinstraße - 10.04.2002 - AZ: VG 4 K 2799/01.NW

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Urteil vom 17.12.2003 - 5 C 25.02 - [ECLI:DE:BVerwG:2003:171203U5C25.02.0]

Urteil

BVerwG 5 C 25.02

  • VG Neustadt a. d. Weinstraße - 10.04.2002 - AZ: VG 4 K 2799/01.NW

In der Verwaltungsstreitsache hat der 5. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 17. Dezember 2003
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. S ä c k e r
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht S c h m i d t , Dr. R o t h k e g e l ,
Dr. F r a n k e und Prof. Dr. B e r l i t
ohne mündliche Verhandlung für Recht erkannt:

  1. Das Urteil des Verwaltungsgerichts Neustadt an der Weinstraße vom 10. April 2002 wird aufgehoben.
  2. Die Beklagte wird verpflichtet, an die Klägerin 2 386 € zuzüglich 4 % Zinsen hieraus ab Rechtshängigkeit zu zahlen.
  3. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.

I


Frau M.B. und ihr Sohn P.B. verzogen am 1. Juni 1996 aus dem Zuständigkeitsbereich der Beklagten in den Zuständigkeitsbereich der Klägerin. Für die nachfolgend an Frau M.B. geleistete Sozialhilfe erstattete die Beklagte der Klägerin die Kosten nach § 107 BSHG. Wegen der von der Klägerin an den Sohn P.B. geleisteten Sozialhilfe lehnte die Beklagte einen Kostenerstattungsanspruch bereits dem Grunde nach ab, weil an Frau M.B. gezahltes Kindergeld vollständig als Einkommen des Sohnes P.B. anzurechnen gewesen sei, so dass dieser nicht innerhalb von zwei Monaten nach dem Aufenthaltswechsel hilfebedürftig gewesen sei.
Die Klage der Klägerin gegen die Beklagte auf Kostenerstattung in Höhe von 2 386 € zuzüglich 4 % Zinsen hieraus ab Rechtshängigkeit hat das Verwaltungsgericht durch Urteil vom 10. April 2002 mit folgender Begründung abgewiesen: Für den Sohn P.B. könne die Klägerin keine Kostenerstattung verlangen, da dieser nach dem Umzug nicht hilfebedürftig gewesen sei. Denn dessen sozialhilferechtlicher Bedarf sei nach dem Umzug im Juni 1996 durch das Kindergeld in Höhe von 200 DM und einen Unterhaltsvorschuss in Höhe von 249 DM gedeckt gewesen. Das Kindergeld sei bei dem Kind P.B. bis zur Höhe seines sozialhilferechtlichen Bedarfs als Einkommen i.S. des § 76 BSHG zu berücksichtigen gewesen.
Mit der vom Verwaltungsgericht zugelassenen Sprungrevision, deren Einlegung die Beklagte schriftlich zugestimmt hat, verfolgt die Klägerin ihr Klagebegehren weiter. Sie rügt die Verletzung der §§ 107, 76 BSHG.
Die Beklagte verteidigt das angegriffene Urteil.

II


Die zulässige Sprungrevision der Klägerin, über die das Bundesverwaltungsgericht im Einverständnis der Beteiligten gemäß § 141 Satz 1 i.V.m. § 125 Abs. 1 Satz 1 und § 101 Abs. 2 VwGO ohne mündliche Verhandlung entscheiden kann, ist begründet. Die Auffassung des Verwaltungsgerichts, das Kind P.B. sei nach dem Umzug im Juni 1996 nicht sozialhilfebedürftig gewesen, weil das Kindergeld für es bis zur Höhe seines sozialhilferechtlichen Bedarfs bei ihm als Einkommen zu berücksichtigen gewesen sei, steht mit Bundesrecht nicht in Einklang. Auf der Grundlage der tatsächlichen Feststellungen des Verwaltungsgerichts kann das Bundesverwaltungsgericht in der Sache selbst entscheiden (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 VwGO).
Kindergeld ist sozialhilferechtlich anrechenbares Einkommen (BVerwGE 114, 339). Vorbehaltlich einer besonderen rechtlichen Zuordnung ist es Einkommen dessen, der es erhält. Das nicht an das minderjährige Kind selbst, sondern an einen Elternteil ausgezahlte Kindergeld ist darum nicht Einkommen des Kindes, sondern des das Kindergeld erhaltenden Elternteils.
Dem Streitfall liegt unstreitig kein Sonderfall nach § 74 EStG zugrunde, auf Grund dessen das Kindergeld nach dem Umzug an das Kind P.B. ausgezahlt worden wäre. Das Kindergeld ist an seine anspruchsberechtigte Mutter gezahlt worden, sie hat es erhalten.
Anders als das am 1. Januar 2005 in Kraft tretende Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch - SGB XII - vom 27. Dezember 2003 <BGBl I S. 3023>, nach dessen § 82 Abs. 1 Satz 2 bei Minderjährigen das Kindergeld dem jeweiligen Kind als Einkommen zuzurechnen ist, soweit es bei diesem zur Deckung des notwendigen Lebensunterhaltes benötigt wird (eine vergleichbare Regelung findet sich in § 11 Abs. 1 Satz 3 des am 1. Januar 2005 in Kraft tretenden Sozialgesetzbuchs Zweites Buch - SGB II - vom 24. Dezember 2003 <BGBl I S. 2955>), enthält das Bundessozialhilfegesetz keine besondere Regelung, wem Kindergeld als Einkommen zugeordnet ist. Das geltende Sozialhilferecht schreibt insbesondere nicht vor, dass das für ein Kind gewährte und an einen Elternteil ausgezahlte Kindergeld oder ein Teil davon sozialhilferechtlich Einkommen des Kindes sei. Auch steht es dem Elternteil, der das Kindergeld erhält, im Rahmen des Sozialhilferechts nicht zu, Kindergeld oder einen Teil davon dem Kind mit der Wirkung zuzuwenden, dass es insoweit nicht (mehr) Einkommen des Elternteils, sondern Einkommen des Kindes selbst wäre. An seiner früheren Rechtsprechung, die eine solche familieninterne Einkommenszuordnung des Kindergeldes nach der Rechtslage vor der Neuregelung des Kindergeldrechts durch das Jahressteuergesetz 1996 vom 11. Oktober 1995 (BGBl I S. 1250) und vor der Einfügung der jetzt geltenden Sätze 2 und 3 in § 48 Abs. 1 SGB I durch Gesetze vom 20. Juli 1988 (BGBl I S. 1046) und vom 30. Juni 1989 (BGBl I S. 1294) als zulässig erachtete (vgl. BVerwGE 20, 188; 25, 307; 39, 314; 60, 6), hält der Senat für das jetzt geltende Kindergeldrecht nicht fest.
Steuerrechtlich steht nach § 62 EStG der Anspruch auf Kindergeld "für Kinder im Sinne des § 63" anders als nach § 1 Abs. 2 BKGG für den dort bezeichneten Sonderfall nicht dem Kind für sich selbst zu, sondern einem mit dem Kind, für das Kindergeld gewährt wird, nicht identischen Anspruchsberechtigten. Da Kindergeld für jedes Kind nur einem Berechtigten gezahlt wird (§ 64 Abs. 1 EStG), beurteilt sich bei mehreren Berechtigten nach § 64 Abs. 2 EStG, wem von ihnen das Kindergeld gezahlt wird. In Sonderfällen sieht § 74 EStG (vergleichbar §§ 48 f. SGB I) vor, dass das Kindergeld an Dritte ausgezahlt werden kann beziehungsweise auszuzahlen ist. An Kinder des Kindergeldberechtigten kann es nach § 74 Abs. 1 Satz 1 EStG in angemessener Höhe ausgezahlt werden, wenn der Kindergeldberechtigte ihnen gegenüber seinen gesetzlichen Unterhaltspflichten nicht nachkommt. Nach § 74 Abs. 1 Satz 2 EStG kann Kindergeld zudem an Kinder, die bei der Festsetzung des Kindergeldes berücksichtigt werden, bis zur Höhe des Betrages, der sich bei entsprechender Anwendung des § 76 EStG ergibt, ausgezahlt werden. Dies gilt auch, wenn der Kindergeldberechtigte mangels Leistungsfähigkeit nicht unterhaltspflichtig ist oder nur Unterhalt in Höhe eines Betrages zu leisten braucht, der geringer ist als das für die Auszahlung in Betracht kommende Kindergeld. Schließlich ist auf Antrag das Kindergeld an ein unterhaltsberechtigtes Kind auszuzahlen, wenn der gesetzlich unterhaltspflichtige Kindergeldberechtigte auf Grund richterlicher Anordnung länger als einen Monat in einer Anstalt oder Einrichtung untergebracht ist (§ 74 Abs. 2 EStG).
Aus dem Zweck des Kindergeldes folgt keine von der Auszahlung unabhängige Zuordnung als Einkommen des Kindes. Nach der steuerrechtlichen Regelung des Kindergeldes in §§ 31, 62 ff. EStG fällt wegen eines Kindes in Höhe des Kindergeldes weniger Steuer an oder ist das Kindergeld eine Leistung zur Förderung der Familie und fließt in dieser Höhe Einkommen zu (BVerwGE 114, 339 <340>). Daraus kann aber entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts nicht geschlossen werden, die Zweckbindung des Kindergeldes bestehe nach § 31 EStG darin, das Existenzminimum des Kindes abzudecken. Vielmehr ist ein Zweck des Kindergeldes, die steuerliche Freistellung eines Einkommensbetrages in Höhe des Existenzminimums eines Kindes zu bewirken (§ 31 EStG). Mit diesem Zweck wird Kindergeld nicht dem Kind selbst (vertreten durch die Eltern) als Einkommen zur Sicherung seines Existenzminimums gewährt, sondern es bleibt der Teil des elterlichen Einkommens steuerfrei, den diese zur Existenzsicherung ihres Kindes benötigen. Eine Steuerfreistellung kann zu einem höheren Nettoeinkommen des Anspruchsberechtigten, nicht dagegen zu Einkommen des Kindes selbst führen, für das Kindergeld gewährt wird. Zum anderen dient das Kindergeld, soweit es für den Zweck der steuerlichen Freistellung nicht erforderlich ist, "der Förderung der Familie" und nicht etwa allein oder vorrangig der Förderung des Kindes, für das Kindergeld gewährt wird.
Auch das Zivilrecht ordnet Kindergeld nicht abweichend vom Steuerrecht dem Kind als Einkommen zu. § 1612b BGB regelt allein die Anrechnung von Kindergeld in Bezug auf den Unterhalt für das Kind (vgl. dazu BGH, Urteil vom 29. Januar 2003 - XII ZR 289/01 - FamRZ 2003, 445 = MDR 2003, 749 = NJW 2003, 1177; BVerfG, Beschluss vom 9. April 2003 - 1 BvL 1/01 und 1 BvR 1749/01 - FamRZ 2003, 1370 = NJW 2003, 2733). Im Kinder- und Jugendhilferecht erklärt § 39 Abs. 6 SGB VIII für den Fall, dass das Kind oder der Jugendliche im Rahmen des Familienleistungsausgleichs nach § 31 EStG bei der Pflegeperson berücksichtigt wird, nicht Teilbeträge des Kindergeldes als Einkommen des Kindes oder Jugendlichen, sondern bestimmt eigenständig eine gewisse Anrechnung solcher Beträge auf die laufenden Leistungen zum Unterhalt.
Nach §§ 11, 28 BSHG müssen Eltern ihr Einkommen, zu dem das einem Elternteil ausgezahlte Kindergeld gehört, auch für den Bedarf ihrer minderjährigen Kinder einsetzen. Allerdings steht ihnen ein für ihre Kinder einsetzbares Einkommen erst zur Verfügung, soweit sie es nicht selbst zur Deckung ihres eigenen Existenzminimums benötigen. Denn ausgehend von dem jedem Einzelnen zustehenden eigenständigen Sozialhilfeanspruch sind die Voraussetzungen eines jeden Sozialhilfeanspruchs eigenständig zu prüfen. Nach dem geltenden Recht (vgl. demgegenüber § 9 Abs. 2 Satz 3 SGB II) müssen Eltern ihr Einkommen erst dann im Rahmen der zu ihren Kindern bestehenden Einsatzgemeinschaft für die Bedarfsdeckung des Kindes einsetzen, wenn es für die eigene Bedarfsdeckung nicht benötigt wird und damit übrig bleibt. Für eine nach außen nur schwer feststellbare, rein familieninterne Einkommensverschiebung des Kindergeldes (oder eines Teils davon) weg vom Einkommen des das Kindergeld erhaltenden Elternteils hin zum Einkommen des Kindes selbst, wie sie der Senat zum früheren Kindergeldrecht mit Rücksicht auf Art. 6 GG für zulässig erachtet hatte, besteht nach der gegenwärtigen Rechtslage, die eine Auszahlung des Kindergeldes an das Kind auch dann ermöglicht, wenn der Kindergeldberechtigte mangels Leistungsfähigkeit nicht unterhaltspflichtig ist, keine Rechtfertigung mehr. Wenn die Eltern wollen, dass nicht sie, sondern ihr Kind das Kindergeld als Einkommen erhält, können sie nach § 74 EStG beziehungsweise § 48 SGB I eine Auszahlung direkt an das Kind veranlassen.
In entsprechender Anwendung von § 291 BGB stehen der Klägerin die in Höhe von 4 % begehrten Prozesszinsen zu.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Das vor dem 1. Januar 2002 anhängig gewordene Verfahren vor dem Verwaltungsgericht ist gerichtskostenfrei, nicht aber das nach dem 1. Januar 2002 anhängig gewordene Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht (§ 188 Satz 2, § 194 Abs. 5 VwGO).