Beschluss vom 17.10.2002 -
BVerwG 1 B 281.02ECLI:DE:BVerwG:2002:171002B1B281.02.0

Beschluss

BVerwG 1 B 281.02

  • Bayerischer VGH München - 16.05.2002 - AZ: VGH 9 B 02.30248

In der Verwaltungsstreitsache hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 17. Oktober 2002
durch die Vizepräsidentin des Bundesverwaltungsgerichts
E c k e r t z - H ö f e r und die Richter am Bundes-
verwaltungsgericht R i c h t e r und Prof. Dr. D ö r i g
beschlossen:

  1. Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 16. Mai 2002 wird verworfen.
  2. Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Die Beschwerde ist unzulässig. Sie legt die geltend gemachten Revisionszulassungsgründe, die der Sache nach auf Verfahrensmängel und Abweichungen von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (§ 132 Abs. 2 Nrn. 3, 2 VwGO) zielen, nicht den Anforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO entsprechend dar.
Der Kläger sieht einen Verfahrensverstoß des Berufungsgerichts darin, dass es eine vom Verwaltungsgericht abweichende Glaubwürdigkeitsbeurteilung vorgenommen habe, ohne den Kläger selbst angehört zu haben (Beschwerdebegründung S. 2 ff.). Damit wird ein Verstoß gegen den Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme (§ 96 Abs. 1 VwGO) und gegen die richterliche Sachaufklärungspflicht (§ 86 Abs. 1 VwGO) geltend gemacht.
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts liegt es grundsätzlich im Ermessen des Berufungsgerichts, ob es einen im ersten Rechtszug gehörten Zeugen oder Beteiligten erneut vernimmt. Es kann dessen schriftlich festgehaltene Aussage auch ohne nochmalige Vernehmung zu dem unverändert gebliebenen Beweisthema selbständig würdigen. Von der erneuten Anhörung des Zeugen oder Beteiligten darf das Berufungsgericht jedoch dann nicht absehen, wenn es die Glaubwürdigkeit des in erster Instanz Vernommenen abweichend vom Erstrichter beurteilen will und es für diese Beurteilung auf den persönlichen Eindruck von dem Zeugen oder Beteiligten ankommt (vgl. etwa Beschluss vom 10. Mai 2002 - BVerwG 1 B 392.01 - <zur Veröffentlichung vorgesehen>; Beschluss vom 28. April 2000 - BVerwG 9 B 137.00 - Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 253).
Greift das Berufungsgericht für seine Überzeugungsbildung auf die schriftlich festgehaltene Aussage eines Zeugen oder Beteiligten zurück, muss es zudem beachten, dass Grundlage seiner Wahrheitsfindung insoweit nur diese Urkunde und nicht die durch das erstinstanzliche Gericht aufgrund des persönlichen Eindrucks von dem jeweiligen Verfahrensbeteiligten selbst gewonnene Überzeugung von seiner Glaubwürdigkeit ist (vgl. dazu Beschluss vom 28. April 2000 - BVerwG 9 B 137.00 - a.a.O.).
Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe zeigt das Beschwerdevorbringen einen Verfahrensverstoß nicht auf. Zwar trifft das Berufungsgericht eine Glaubwürdigkeitsbeurteilung im Hinblick auf das Vorbringen des Klägers zur Teilnahme an der Tötung von gefangenen gegnerischen Kämpfern, die zu der Bewegung gehörten, die heute die Regierungsverantwortung in Äthiopien trägt (BA S. 6 unten bis 8). Entgegen dem Beschwerdevorbringen weicht das Berufungsgericht bei dieser Beurteilung aber nicht von der erstinstanzlichen Glaubwürdigkeitsbeurteilung ab. Denn schon das Verwaltungsgericht ist auf der Grundlage von drei persönlichen Anhörungen des Klägers zu der Bewertung gelangt, an der Richtigkeit seiner Angaben zur Tötung von gefangenen Angehörigen der sog. Befreiungskrieger bestünden "so erhebliche Zweifel, dass sie nicht als glaubwürdig angesehen werden können" (UA S. 9).
Hinzu kommt, dass die Entscheidung des Berufungsgerichts nicht auf der Glaubwürdigkeitsbeurteilung beruht. Derartige Glaubwürdigkeitserwägungen stellt das Gericht im Rahmen der Frage an, ob ein Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 2 Satz 1 AuslG besteht, weil der äthiopische Staat den Kläger wegen einer Straftat suche und ihm die Gefahr der Todesstrafe drohe (BA S. 5 bis 8). Das Berufungsgericht verneint das Abschiebungshindernis aber schon deshalb, "weil Anhaltspunkte dafür, dass die zuständigen Staatsorgane in Äthiopien jetzt, d.h. aktuell, wegen einer Straftat nach dem Kläger suchen, nicht ersichtlich" seien (BA S. 5).
Zu diesem für seine rechtliche Bewertung maßgeblichen Ergebnis gelangt das Gericht aufgrund einer Auswertung von erstinstanzlich eingeholten Stellungnahmen zur Strafverfolgung von Angehörigen des früheren Mengistu-Regimes und des klägerischen Vortrags zunächst ohne Bewertung seiner Glaubhaftigkeit (BA S. 5 f.). Es legt dar, dass in den Jahren 1992 bis 1994 umfangreiche strafrechtliche Ermittlungen gegen Angehörige des früheren Mengistu-Regimes wegen Kriegsverbrechen und anderer schwerer Vergehen durchgeführt wurden. Etwa 3 500 Beschuldigte sollen mit dem Regime in Verbindung gebracht worden sein. Bei der hohen Dichte und Intensität der Strafverfolgungsmaßnahmen könne nicht angenommen werden, dass frühere Militärangehörige (zumal im Offiziersrang wie der Kläger) bei konkreter Beteiligung an Kriegsverbrechen unerkannt geblieben und daher nicht zur Fahndung ausgeschrieben worden seien. Der Kläger habe keine Belege wie Such- oder Haftbefehle vorgelegt und im Übrigen auch nicht substantiiert dargetan, dass und ab welchem Zeitpunkt äthiopische Strafverfolgungsbehörden gezielt nach ihm - wegen angeblicher Kriegsverbrechen - gefahndet haben. Das Berufungsgericht verneint der Sache nach eine Gefahr strafrechtlicher Verfolgung im Sinne des § 53 Abs. 2 Satz 1 AuslG also schon deshalb, weil es keine Anhaltspunkte für Strafverfolgungsmaßnahmen sieht.
Allerdings legt das Gericht dann in einer zweiten Begründung dar, die Würdigung des klägerischen Vorbringens lasse erhebliche Zweifel daran aufkommen, dass er überhaupt an verfolgbaren Straftaten beteiligt war (BA S. 7). Die in diesem Rahmen dargelegte Argumentation ist für das Berufungsgericht aber nicht notwendiger Bestandteil seiner Erstbegründung. Am Tatbestand des § 53 Abs. 2 Satz 1 AuslG fehlt es unter Zugrundelegung einer wörtlichen Auslegung dieser Vorschrift schon, wenn der Abschiebezielstaat den Ausländer nicht wegen einer Straftat sucht. Ob er eine Straftat begangen hat oder nicht, ist kein Tatbestandsmerkmal. Das Berufungsgericht hat folgerichtig das in dieser Vorschrift normierte Abschiebungshindernis in einer seine Entscheidung selbständig tragenden Begründung verneint, weil es keine Anhaltpunkte dafür gesehen hat, dass der Kläger wegen einer Straftat gesucht werde (BA S. 5).
Die Beschwerde entspricht auch insoweit nicht den Erfordernissen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO, als sie rügt, die Ausführungen des Berufungsgerichts zur Todesstrafe verstießen gegen die Denkgesetze, sie zeigten, dass sich das Gericht nicht die notwendige Überzeugungsgewissheit gebildet habe und beruhten auf Aufklärungsmängeln (Beschwerdebegründung S. 3). Das Gericht hat ausgeführt, dass es die Frage nach einer im Falle der Rückkehr drohenden Todesstrafe nicht zu beantworten brauche, weil nicht angenommen werden könne, dass äthiopische Strafverfolgungsbehörden den Kläger gezielt suchten (BA S. 8). Diese Folgerung durfte das Gericht ohne Verstoß gegen § 108 Abs. 1 VwGO ziehen, und ohne dass dem ein Aufklärungsmangel zugrunde liegen würde. Denn Voraussetzung für die Prüfung, ob einem Ausländer die Todesstrafe droht, ist nach § 53 Abs. 2 Satz 1 AuslG die Tatsache, dass ihn der Zielstaat "wegen einer Straftat sucht". Fehlt es - wie vorliegend - schon an dieser Voraussetzung, so entspricht der Verzicht auf eine weitere Aufklärung zu möglichen Folgen einer Strafverfolgung dem Verfahrensrecht, weil es für die Entscheidung des Rechtsstreits auf diese Frage nicht ankommt. Das vom Gericht gewählte Verfahren entspricht der logischen Abfolge einer Gesetzesanwendung, ein Verstoß gegen die Denkgesetze ist nicht erkennbar.
Die Beschwerde macht ferner eine Abweichung des angefochtenen Beschlusses von einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts geltend (Beschwerdebegründung S. 4). Dabei genügt sie jedoch nicht den an diesen Zulassungsgrund zu stellenden Darlegungsanforderungen (vgl. dazu Beschluss vom 19. August 1997 - BVerwG 7 B 261.97 - Buchholz 310 § 133 n.F. VwGO = NJW 1997, 3328). Soweit sie in diesem Zusammenhang die nach ihrer Auffassung unzutreffende Rechtsanwendung des Berufungsgerichts im konkreten Fall rügt, vermag sie einen von höchstrichterlichen Entscheidungen abweichenden abstrakten Rechtssatz nicht aufzuzeigen.
Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (§ 133 Abs. 5 Satz 2 Halbsatz 2 VwGO).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden nach § 83 b Abs. 1 AsylVfG nicht erhoben. Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 83 b Abs. 2 AsylVfG.