Beschluss vom 16.07.2008 -
BVerwG 9 A 21.08ECLI:DE:BVerwG:2008:160708B9A21.08.0

Leitsätze:

1. Die erstinstanzliche Zuständigkeit des Oberverwaltungsgerichts gemäß § 48 Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 VwGO umfasst nicht nur Planfeststellungsverfahren für den Bau neuer, sondern auch für die Änderung bestehender Strecken von öffentlichen Eisenbahnen.

2. Die Aufhebung (Schließung) eines höhengleichen Bahnübergangs ist eine Änderung einer Eisenbahnstrecke i.S.v. § 48 Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 VwGO.

3. Die Ergänzungsklausel des § 48 Abs. 1 Satz 2 Halbs. 2 VwGO begründet eine Zuständigkeit des Oberverwaltungsgerichts für mit dem Vorhaben in einem räumlichen und betrieblichen Zusammenhang stehende Nebeneinrichtungen auch dann, wenn ausschließlich um eine solche Nebeneinrichtung gestritten wird.

Beschluss

BVerwG 9 A 21.08

In der Verwaltungsstreitsache hat der 9. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 16. Juli 2008
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Storost,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Domgörgen und
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Buchberger
beschlossen:

  1. Das Bundesverwaltungsgericht erklärt sich für unzuständig und verweist den Rechtsstreit an das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen.
  2. Die Entscheidung über die Kosten des Verfahrens vor dem Bundesverwaltungsgericht bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.

Gründe

1 1. Das Bundesverwaltungsgericht ist - entgegen der dem angefochtenen Planfeststellungsbeschluss beigefügten Rechtsbehelfsbelehrung - für die Entscheidung über den vorliegenden Rechtsstreit nicht zuständig. Der Rechtsstreit betrifft die Anfechtung eines Planfeststellungsbeschlusses gemäß § 18 Satz 1 des Allgemeinen Eisenbahngesetzes (AEG) für die ersatzlose Aufhebung eines Bahnübergangs auf der Strecke Soest - Hannover. Für dieses Vorhaben ist eine Zuständigkeit des Bundesverwaltungsgerichts weder nach dem auslaufenden Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz (vgl. § 39 Abs. 1 Satz 2 AEG i.V.m. §§ 5, 11 Abs. 2 VerkPBG), das auf den Bereich der neuen Bundesländer einschließlich des Landes Berlin beschränkt ist, noch nach dem Gesetz zur Beschleunigung von Planungsverfahren für Infrastrukturvorhaben vom 9. Dezember 2006 - InfrPBG - (BGBl I S. 2833, berichtigt durch BGBl I 2007, S. 691) gegeben, mit dem die erstinstanzliche Zuständigkeit des Bundesverwaltungsgerichts für bestimmte Verkehrsprojekte auch auf den Bereich der alten Bundesländer erweitert worden ist. Die streitgegenständliche Eisenbahnstrecke ist namentlich nicht in dem Katalog der Eisenbahnvorhaben enthalten, für die der Gesetzgeber in § 50 Abs. 1 Nr. 6 VwGO i.V.m. § 18e Abs. 1 AEG (i.d.F. des InfrPBG) und der Anlage zur letztgenannten Vorschrift die Zuständigkeit des Bundesverwaltungsgerichts vorgesehen hat.

2 2. Gemäß § 83 VwGO i.V.m. § 17a Abs. 2 Satz 1 GVG ist der Rechtsstreit nach erfolgter Anhörung der Beteiligten durch Beschluss an das sachlich zuständige Gericht zu verweisen. Das ist gemäß § 48 Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 VwGO das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen. Nach dieser Vorschrift entscheidet das Oberverwaltungsgericht im ersten Rechtszug (u.a.) über sämtliche Streitigkeiten, die Planfeststellungsverfahren für den Bau oder die Änderung neuer Strecken von öffentlichen Eisenbahnen betreffen.

3 a) Der Zuständigkeit des Oberverwaltungsgerichts steht nicht entgegen, dass es im Streitfall um die Änderung einer bestehenden Eisenbahnstrecke geht. Entgegen dem Wortlaut der Vorschrift ist die Zuständigkeit des Oberverwaltungsgerichts bei Änderungsvorhaben nicht beschränkt auf (nur) „neue Strecken“, sondern sie erfasst auch die Änderung bestehender Strecken. Der Wortlaut der Norm ist aufgrund der durch Art. 7 Nr. 2 des Planungsvereinfachungsgesetzes vom 17. Dezember 1993 (BGBl I S. 2123) erfolgten Einfügung der Wörter „oder die Änderung“ vor den Wörtern „neuer Strecken“ redaktionell missglückt. Eine streng am Wortlaut ausgerichtete Auslegung dahingehend, dass bei Änderungsvorhaben (wie beim Bau neuer Vorhaben) nur neue Strecken erfasst wären, würde zu keinem sinnvollen Ergebnis führen. Sie wäre unpraktikabel, weil abzugrenzen wäre, bis wann eine bestehende Strecke noch als „neu“ anzusehen wäre, und sie widerspräche dem Regelungszweck der Vorschrift, aus Gründen der Beschleunigung des gerichtlichen Verfahrens eine umfassende erstinstanzliche Zuständigkeit „für alle Klagen gegen Verkehrswegevorhaben“ (vgl. BTDrucks 12/4328 S. 2) zu begründen (ebenso OVG Schleswig, Beschluss vom 29. Juli 1994 - 4 M 58/94 - SchlHA 1994, 267; VGH Mannheim, Urteil vom 7. Dezember 1995 - 5 S 1525/95 - NVwZ-RR 1997, 76 f.; OVG Koblenz, Urteil vom 12. Dezember 2001 - 8 C 11219/01 - NVwZ-RR 2002, 392; Bier, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, Stand 14. Erg.-Lfg. Februar 2007, § 48 Rn. 30; Ziekow, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 2. Aufl. 2006, § 48 Rn. 22; Eyermann/Schmidt, VwGO, 12. Aufl. 2006, § 48 Rn. 11; Kopp/ Schenke, VwGO, 15. Aufl. 2007, § 48 Rn. 10).

4 b) Die Vorschrift schließt auch Vorhaben für die Aufhebung (Schließung) eines (höhengleichen) Bahnübergangs ein, sei es dass dieser ersatzlos aufgehoben wird oder durch eine Straßenunter- oder Straßenüberführung ersetzt wird.

5 Der gegenteiligen Ansicht, die in Vorhaben dieser Art keine Änderung einer „Strecke“ i.S.v. § 48 Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 VwGO sieht, weil sie die Gleisführung des Verkehrsweges unberührt ließen und sich lediglich als Maßnahmen zur Betriebsänderung erwiesen (so OVG Münster, Beschlüsse vom 15. August 1996 - 20 D 34/96.AK - BA S. 3 f. <n.v.> und vom 18. September 1997 - 20 D 103/95.AK - juris Rn. 16), vermag sich der Senat nicht anzuschließen (im Ergebnis wie hier VGH Mannheim a.a.O.; OVG Lüneburg, Urteil vom 30. April 1997 - 7 K 3887/96 - juris Rn. 21 ff. und Bader/von Albedyll, VwGO, 4. Aufl. 2007, § 48 Rn. 15 <für die Errichtung von Bahnschranken>; ferner VGH München, Beschluss vom 9. August 1995 - 20 AS 95.40054 - BA S. 9 <n.v., für den Bau einer Bahnsteigunterführung>).

6 Der Begriff der Änderung einer (Eisenbahn-)„Strecke“ zwingt nach seinem natürlichen und herkömmlich verstandenen Wortsinn sowie nach seiner Verwendung in eisenbahnrechtlichen Fachgesetzen (vgl. § 11 Abs. 1 Satz 1 AEG, § 12 Abs. 1 Nr. 2a PBefG) nicht zu einer Auslegung, die ihn im vorstehenden Sinne auf bauliche Eingriffe in die Gleisführung reduziert. Der Begriff „Strecke“ beschreibt eine zwischen zwei Punkten - von A nach B - führende, aus einem oder mehreren Gleisen bestehende Verkehrsverbindung im Raum, die ein Eisenbahnunternehmen betreibt und als Infrastruktureinrichtung grundsätzlich zu unterhalten hat (vgl. § 11 Abs. 1 Satz 1 AEG und dazu das Urteil vom 25. Oktober 2007 - BVerwG 3 C 51.06 - DVBl 2008, 380 <381 ff.>). Dem Umstand, dass die Verwaltungsgerichtsordnung den Begriff der „Strecke“ und nicht den - scheinbar weitergehenden - Begriff der „Betriebsanlagen“ einer Eisenbahn einschließlich der Bahnstromleitungen i.S.v. § 18 Satz 1 AEG (zuvor § 18 Abs. 1 Satz 1 AEG a.F.) verwendet, misst der Senat keine entscheidende Bedeutung bei. Bei der Begründung der erstinstanzlichen Zuständigkeit des Oberverwaltungsgerichts für eisenbahnrechtliche Projekte hatte der Gesetzgeber erkennbar vor Augen, dass diese gemäß § 18 AEG dem Erfordernis der Planfeststellung unterliegen (bzw. der ihr nach § 48 Abs. 1 Satz 2 Halbs. 1 VwGO gleichgestellten Plangenehmigung), mithin ein komplexes und zeitaufwändiges Verfahren stattfinden muss, in dem die privaten und öffentlichen Belange, die für und gegen das Vorhaben sprechen, gegeneinander abzuwägen sind. Der beschleunigte Abschluss dieser Verfahren durch Verkürzung des Instanzenzuges ist Sinn und Zweck der Zuständigkeitsbestimmung. Vor diesem Hintergrund ist nicht zu erkennen, dass der Gesetzgeber mit dem Begriff der „Strecke“ in § 48 Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 VwGO eine vom Begriff der planfeststellungsbedürftigen Bahnanlagen sachlich abweichende (einschränkende) Regelung treffen wollte, die bestimmte Bau- oder Änderungsmaßnahmen an den Betriebsanlagen der Bahn von der erstinstanzlichen Zuständigkeit der Oberverwaltungsgerichte ausnehmen wollte. Dies würde dem ausweislich der Gesetzesbegründung (s.o.) umfassend gewollten Beschleunigungszweck der Vorschrift zuwiderlaufen.

7 Der Begriff der Betriebsanlagen i.S.v. § 18 Satz 1 AEG wiederum ist gleichbedeutend mit dem der „Bahnanlagen“ im Sinne des früheren § 36 Abs. 1 Satz 1 des Bundesbahngesetzes - BBahnG - und der Eisenbahnbetriebsordnung - EBO - (vgl. Vallendar, in: Hermes/Sellner, AEG, 2006, § 18 Rn. 41; Wittenberg/Heinrichs/Mittmann/Mallikat, EBO, 5. Aufl. 2006, § 4 Rn. 4). § 4 Abs. 1 Satz 3 EBO unterteilt diese in die Bahnanlagen der Bahnhöfe, der freien Strecke und sonstige Bahnanlagen. Erfasst sind danach alle (aber auch nur solche) Anlagen, die unmittelbar mit dem technischen Bahnbetrieb in räumlicher und funktionaler Verbindung stehen. Dazu zählen neben dem eigentlichen Schienenweg (als „Anlagenkern“) auch alle Nebenanlagen der Schienenwege, die dazu dienen, den Eisenbahntransport abzuwickeln und zu sichern (vgl. § 4 Abs. 1 Satz 1 EBO), z.B. Bahnhöfe und Haltepunkte (als typische Nebenanlagen), aber auch die gesamte Infrastruktur der freien Strecke mit ihren Betriebsleit- und Sicherungssystemen (vgl. zu alldem die Darstellung bei Vallendar, a.a.O. Rn. 41 ff. <42, 45> m.w.N. der Rechtsprechung).

8 Dagegen fiele nach der hier beanstandeten engen Auslegung des Begriffs „Strecke“ in § 48 Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 VwGO die Anlegung eines neuen Bahnhofs für den Personenverkehr (da die Vorschrift nur Rangier- oder Containerbahnhöfe nennt) oder eines Haltepunkts an einer bestehenden „freien Strecke“, wenn und soweit dies nicht mit einer (keineswegs zwangsläufigen) Veränderung der Gleisführung verbunden ist, nicht in die Zuständigkeit der Oberverwaltungsgerichte, obwohl es sich mit Blick auf die von einem solchen Vorhaben möglicherweise betroffenen vielfältigen Belange um ein grundsätzlich planfeststellungsbedürftiges Vorhaben i.S.v. § 18 Satz 1 AEG handelt, um deren Verfahrensbeschleunigung es dem Gesetzgeber gerade ging.

9 Auch die scheinbar wenig bedeutsame Schließung eines Bahnübergangs kann verschiedenste gewichtige Belange berühren. Im vorliegenden Fall hat sie ihren Grund in der geplanten Erhöhung der Streckengeschwindigkeit auf mehr als 160 km/h; denn gemäß § 11 Abs. 2 EBO sind auf Strecken mit einer zugelassenen Geschwindigkeit von mehr als 160 km/h (höhengleiche) Bahnübergänge unzulässig. Geschwindigkeitserhöhungen auf Werte jenseits dieser Größenordnung können immissionsschutzrechtliche Fragen aufwerfen. Daneben löst die Aufhebung eines Bahnübergangs regelmäßig in einem größeren räumlichen Umfeld Betroffenheiten aus, z.B. weil sie Wegebeziehungen dauerhaft unterbricht mit der Folge, dass insbesondere Inhaber landwirtschaftlicher Betriebe längere Wegstrecken zwischen ihrem Betriebssitz und den zu bewirtschaftenden Flächen zurücklegen müssen. Solche Probleme zu bewältigen und die privaten und öffentlichen Belange gegeneinander abzuwägen, ist Gegenstand der Planfeststellungsverfahren, um deren verfahrensrechtliche Beschleunigung es dem Gesetzgeber ging.

10 Die Zuständigkeit des Oberverwaltungsgerichts ergibt sich im Übrigen - unabhängig von dem Vorstehenden, jedenfalls aber in der Zusammenschau - aus der Ergänzungsklausel des § 48 Abs. 1 Satz 2 Halbs. 2 VwGO, wonach Satz 1 der Vorschrift (u.a.) gilt für Streitigkeiten über sämtliche für das Vorhaben erforderlichen Genehmigungen und Erlaubnisse, auch soweit sie Nebeneinrichtungen betreffen, die mit ihm in einem räumlichen und betrieblichen Zusammenhang stehen. Ein (höhengleicher) Bahnübergang i.S.v. § 11 Abs. 1 EBO ist mit seinen in den weiteren Absätzen dieser Vorschrift im Einzelnen detailliert geregelten Sicherheitsvorkehrungen eine Nebeneinrichtung zu einer Bahnstrecke. Mit dem „Vorhaben“ („mit ihm“), zu dem die Nebeneinrichtung in einem räumlichen und betrieblichen Zusammenhang stehen muss, ist nicht verlangt, dass neben der Aufhebung des Bahnübergangs - sei es in demselben oder in einem parallel ergangenen oder noch zu erlassenden Planfeststellungsbeschluss - noch weitere (nämlich die „eigentlichen“) Änderungen an der Gleisführung (im oben beanstandeten engen Sinne des Streckenbegriffs) erfolgen sollen. Es genügt, wenn Gegenstand der Planung ausschließlich eine Nebeneinrichtung ist und diese als solche im räumlichen oder betrieblichen Zusammenhang zu einer Anlage, einem Infrastrukturvorhaben oder einem Verkehrsweg aus dem Katalog des Satzes 1 steht (ebenso OVG Koblenz a.a.O.).