Beschluss vom 16.06.2011 -
BVerwG 8 B 101.10ECLI:DE:BVerwG:2011:160611B8B101.10.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 16.06.2011 - 8 B 101.10 - [ECLI:DE:BVerwG:2011:160611B8B101.10.0]

Beschluss

BVerwG 8 B 101.10

  • OVG Rheinland-Pfalz - 20.09.2010 - AZ: OVG 6 A 102837/10

In der Verwaltungsstreitsache hat der 8. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 16. Juni 2011
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht
Prof. Dr. Dr. h.c. Rennert
und die Richterinnen am Bundesverwaltungsgericht Dr. von Heimburg und
Dr. Held-Daab
beschlossen:

  1. Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision in dem aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 20. September 2010 ergangenen Urteil des Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz wird zurückgewiesen.
  2. Die Klägerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
  3. Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 8 938,98 € festgesetzt.

Gründe

1 Die Klägerin wendet sich gegen ihre Heranziehung zu Beiträgen durch die beklagte Industrie- und Handelskammer. Verwaltungsgericht und Oberverwaltungsgericht haben die Klage abgewiesen. Die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im Berufungsurteil bleibt ohne Erfolg. Die in Anspruch genommenen Zulassungsgründe liegen nicht vor; weder kommt der Rechtssache grundsätzliche Bedeutung zu (1.), noch beruht das Berufungsurteil auf einem Verfahrensmangel (2.).

2 1. Dass der Rechtssache grundsätzliche Bedeutung zukäme (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO), hat die Klägerin nicht dargetan. Hierfür wäre erforderlich gewesen, eine Frage des revisiblen Rechts zu bezeichnen, die sich dem Berufungsgericht gestellt hat, und näher darzulegen, inwiefern diese Frage der - gegebenenfalls erneuten oder weitergehenden - höchstrichterlichen Klärung bedarf, inwiefern mit dieser Klärung in dem angestrebten Revisionsverfahren zu rechnen ist und inwiefern hiervon eine Vereinheitlichung oder Fortentwicklung der Rechtsprechung über den vorliegenden Einzelfall hinaus zu erwarten steht (vgl. § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO). Das leistet die Klägerin nicht. Sie wiederholt zwar - wörtlich - die Fragen, zu denen sie beim Berufungsgericht die Einholung einer Vorabentscheidung des Europäischen Gerichtshofs angeregt hat. Sie legt indes nicht näher dar, inwiefern diese Fragen der höchstrichterlichen Klärung bedürfen. Namentlich lässt sie jede Auseinandersetzung mit der diesbezüglichen Rechtsprechung vermissen. Ferner äußert sie sich auch nicht dazu, inwiefern die gestellten Fragen in dem angestrebten Revisionsverfahren - sei es durch das Bundesverwaltungsgericht, sei es auf dessen Vorlage hin durch den Europäischen Gerichtshof - einer solchen Klärung zugeführt werden können. Hierzu hätte umso mehr Anlass bestanden, als das Berufungsgericht auf die angesprochenen Punkte jeweils eingegangen ist. Im Einzelnen gilt:

3 a) Als erstes bezeichnet die Klägerin die Frage, ob die Niederlassungsfreiheit des Art. 49 AEUV es verbietet, an die Niederlassung eines mitgliedstaatlichen Unternehmens - eines deutschen oder eines aus einem anderen Mitgliedstaat - eine zur Beitragszahlung verpflichtende Mitgliedschaft in einer berufsständischen Kammer zu knüpfen. Sie legt aber nicht dar, inwiefern diese Frage der höchstrichterlichen Klärung bedarf. Namentlich geht sie nicht darauf ein, dass die Niederlassungsfreiheit des Art. 49 AEUV nach Auffassung des Berufungsgerichts auf rein inländische Sachverhalte wie den vorliegenden keine Anwendung findet (so auch die ganz h.M.; vgl. nur Grabitz/Hilf, Das Recht der Europäischen Union, Band I, Stand März 2011, Art. 49 AEUV Rn. 66, Art. 45 AEUV Rn. 54 ff. m.w.N.). Ferner setzt sich die Klägerin nicht mit der Hilfserwägung des Berufungsgerichts auseinander, auch für Unternehmen aus anderen Mitgliedstaaten garantiere Art. 49 AEUV das Recht der Niederlassung grundsätzlich nur nach den Bestimmungen des Aufnahmestaates für seine eigenen Angehörigen, wozu eben auch die Bestimmungen des Kammerrechts gehörten.

4 b) Die zweite und die dritte Frage zielen darauf, ob die Beklagte das Beihilfeverbot des Art. 107 AEUV dadurch verletzt, dass sie die von ihr erhobenen Pflichtbeiträge ihrer Mitglieder zur Förderung der gewerblichen Wirtschaft oder einzelner Gewerbezweige in ihrem Kammerbezirk verwendet und damit den Wettbewerb zwischen den Unternehmen verfälscht. Das übersieht, dass die Beklagte nach den Feststellungen des Berufungsgerichts keine Beihilfen im Sinne des Art. 107 Abs. 1 AEUV erbracht hat oder erbringt. Die Klägerin hat diese Feststellungen nicht mit durchgreifenden Verfahrensrügen angegriffen (dazu noch unten 2.), weshalb sie auch in dem angestrebten Revisionsverfahren zu Grunde zu legen wären (§ 137 Abs. 2 VwGO).

5 c) Mit ihrer vierten Frage will die Klägerin geklärt wissen, ob es mit dem Ziel der Verwirklichung des Binnenmarktes (Art. 26, 27 AEUV) vereinbar ist, dass in Deutschland für bestimmte Gewerbebetriebe eine Mitgliedschafts- und Beitragspflicht in einer Industrie- und Handelskammer besteht, in anderen Mitgliedstaaten hingegen nicht. Hierzu hat das Berufungsgericht unter Bezugnahme auf das Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 29. September 1987 in der Rechtssache Zaera (Rs. C-126/86 - Slg. 1987, S. 3697, 3712) ausgeführt, Art. 26 AEUV umschreibe lediglich ein Politikziel, aus dem sich unmittelbar weder Rechtspflichten der Mitgliedstaaten noch Rechtsansprüche Einzelner begründen ließen. Auch hiermit setzt sich die Klägerin nicht auseinander.

6 d) Zu ihrer fünften und sechsten Frage, welche die demokratische Legitimation der funktionalen Selbstverwaltung als solcher sowie ihrer gewählten Organe betreffen, hat das Berufungsgericht entschieden, dass der in Art. 2 EUV verankerte Wert der Demokratie, auf den sich die Europäische Union gründet, wegen der Verschiedenheit der demokratischen Traditionen und Überzeugungen der Mitgliedstaaten lediglich die von allen Mitgliedstaaten als essentiell anerkannten demokratischen Mindeststandards umfassen und schon deshalb keinesfalls über das hinausgehen könne, was durch das deutsche Verfassungsrecht nach Art. 20 Abs. 2 und Art. 28 Abs. 1 GG gewährleistet sei (vgl. hierzu BVerfG, Beschluss vom 5. Dezember 2002 - 2 BvL 5, 6/98 - BVerfGE 107, 59). Wiederum lässt die Klägerin nicht erkennen, inwiefern dies einer grundsätzlichen Klärung bedarf.

7 2. Auch Verfahrensmängel sind nicht dargetan (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO).

8 a) Die Klägerin rügt insofern, dass das Berufungsgericht sich mit ihrem Sachvortrag in verschiedener Hinsicht nicht hinreichend auseinandergesetzt habe. Damit ist eine Verletzung des Gebots, rechtliches Gehör zu gewähren, nicht dargetan. Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 VwGO verpflichten das Gericht, den Vortrag der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen und bei seiner Entscheidung in Erwägung zu ziehen. Dieses Gebot ist nicht schon dann verletzt, wenn das Gericht in den Gründen seiner Entscheidung auf den Vortrag eines Beteiligten nicht mit der von diesem erwarteten Ausführlichkeit eingeht. Dass das Berufungsgericht entscheidungserheblichen Sachvortrag der Klägerin vollständig übersehen oder übergangen hätte, behauptet die Klägerin selbst nicht; ebenso wenig legt sie dar, dass das Gericht ihr Vorbringen falsch verstanden oder nicht vollständig erfasst hätte.

9 Im Übrigen ist daran zu erinnern, dass Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 VwGO das Gericht nur dazu verpflichten, dasjenige zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen, was nach seinem eigenen materiell-rechtlichen Standpunkt für die anstehende Entscheidung erheblich ist. Das Berufungsgericht hat den Vortrag der Klägerin, die Beklagte habe mit ihrer Beteiligung an einem Flugplatz und an einem Rundfunksender ihren Aufgabenkreis überschritten, für unerheblich gehalten, weil sich die damit verbundenen finanziellen Aufwendungen auf die Beitragshöhe nicht ausgewirkt hätten. Dem liegt die Rechtsansicht zugrunde, dass Aufgabenüberschreitungen, die ohne Auswirkung auf die Beitragshöhe bleiben, jedenfalls nicht zur Rechtswidrigkeit der Beitragserhebung führen könnten.

10 b) Die Klägerin rügt des Weiteren, das Berufungsgericht habe seine Entscheidung auf Sachvortrag der Beklagten im Termin zur mündlichen Verhandlung gestützt und diesen als unstreitig dargestellt, obwohl sie - die Klägerin - dem ausdrücklich widersprochen habe. Damit kann sie nicht gehört werden. Dass der in Rede stehende Sachvortrag der Beklagten nicht bestritten war, steht für das Revisionsverfahren fest. Da die Niederschrift über die mündliche Verhandlung vom 20. September 2010 schweigt (vgl. §§ 159 ff. ZPO), liefert der Tatbestand des Berufungsurteils Beweis für das mündliche Parteivorbringen (§ 314 ZPO i.V.m. § 173 VwGO). Zum Tatbestand in diesem Sinne gehören auch die Feststellungen, die das Gericht im Rahmen der Entscheidungsgründe zum mündlichen Parteivorbringen trifft (vgl. Rennert, in: Eyermann, VwGO-Kommen-tar, 13. Auflage 2010, § 119 Rn. 4 m.w.N.). Das Berufungsgericht hat aber in den Gründen seines Urteils ausdrücklich festgestellt, dass und welcher mündliche Sachvortrag der Beklagten unwidersprochen geblieben ist. Sollte dies fehlerhaft gewesen sein, so hätte der Klägerin ein Antrag auf Tatbestandsberichtigung offen gestanden (§ 119 VwGO).

11 c) Schließlich ist der Beschwerdebegründung zu entnehmen, dass die Klägerin auch rügen möchte, dass das Berufungsgericht über die Berufung sachlich entschieden hat, ohne zuvor eine Vorabentscheidung des Europäischen Gerichtshofs zu den von ihr bezeichneten Fragen einzuholen. Die Nichtbeachtung der Vorlagepflicht kann einen Verstoß gegen das Gebot des gesetzlichen Richters darstellen (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG; vgl. § 138 Ziff. 1 VwGO). Jedoch ist nicht erkennbar, dass das Berufungsgericht dieses Gebot hier verletzt haben könnte. Zum einen kam es auf die von der Klägerin gestellten Fragen nicht an, oder sie ließen sich doch jedenfalls ohne Weiteres auf der Grundlage der bereits vorliegenden Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs beantworten, so dass es einer Vorabentscheidung nicht bedurfte (vgl. EuGH, Urteil vom 6. Oktober 1982 - Rs. C-283/81, CILFIT - Slg. 1982 S. 3415 <Rn. 16>). So wurde (oben 1.) bereits ausgeführt, dass die Fragen der Klägerin auch die Durchführung eines Revisionsverfahrens nicht rechtfertigen. Zum anderen wäre das Berufungsgericht ohnedies zur Einholung einer Vorabentscheidung des Europäischen Gerichtshofs zwar berechtigt, aber nicht verpflichtet gewesen, weil seine Entscheidung nach innerstaatlichem Prozessrecht noch mit Rechtsmitteln, nämlich mit der Nichtzulassungsbeschwerde angefochten werden konnte (Art. 267 Abs. 3 AEUV).

12 Neues Beschwerdevorbringen im Schriftsatz der Klägerin vom 21. Februar 2011 war nicht zu berücksichtigen, da dieser nicht vor Ablauf der Beschwerdebegründungsfrist am Montag, dem 6. Dezember 2010, bei Gericht eingegangen ist (§ 133 Abs. 3 Satz 1 VwGO).

13 Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die Festsetzung des Streitwerts auf § 47 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3, § 52 Abs. 3 GKG.