Beschluss vom 16.05.2006 -
BVerwG 3 PKH 15.05ECLI:DE:BVerwG:2006:160506B3PKH15.05.0

Beschluss

BVerwG 3 PKH 15.05

  • VG Chemnitz - 09.06.2005 - AZ: VG 6 K 612/02

In der Verwaltungsstreitsache hat der 3. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 16. Mai 2006
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Kley und
die Richter am Bundesverwaltungsgericht van Schewick und Dr. Dette
beschlossen:

Der Antrag des Klägers, ihm für die Durchführung des Beschwerdeverfahrens gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Verwaltungsgerichts Chemnitz vom 9. Juni 2005 Prozesskostenhilfe zu bewilligen, wird abgelehnt.

Gründe

1 Der Kläger begehrt Rehabilitierung nach dem Beruflichen Rehabilitierungsgesetz (BerRehaG) aufgrund seiner vom 4. Dezember 1969 bis 20. Dezember 1972 erlittenen Haft wegen versuchter Republikflucht, für die er durch das Landgericht Leipzig bereits nach dem Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetz rehabilitiert worden ist. Das Verwaltungsgericht hat seine Klage abgewiesen, weil er durch seine Tätigkeit für das Ministerium für Staatssicherheit der ehemaligen DDR gemäß § 4 BerRehaG gegen die Grundsätze der Menschlichkeit und Rechtsstaatlichkeit verstoßen habe.

2 Prozesskostenhilfe kann dem Kläger nicht bewilligt werden, weil die von ihm beabsichtigte Rechtsverfolgung keine Aussicht auf Erfolg bietet (§ 166 VwGO i.V.m. § 114 ZPO). Der allein geltend gemachte Zulassungsgrund des Verfahrensmangels (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) liegt nicht vor.

3 Die Beschwerde wirft dem Verwaltungsgericht vor, gegen den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 VwGO) und gegen die aus § 86 VwGO folgende Aufklärungspflicht sowie gegen den Grundsatz der Mündlichkeit der Verhandlung nach § 101 VwGO verstoßen zu haben. Die Entscheidung des Verwaltungsgerichts habe „trotz offensichtlicher Kenntnis der Notwendigkeit für eine ausreichende Sachverhaltsaufklärung ... nicht die Beteiligten, vor allem den persönlich betroffenen Kläger in ausreichendem Maße zu einer sachlich objektiven Entscheidungsfindung herangezogen ...“. Außerdem sei die ohne entsprechende Hinweise erfolgte Entscheidung überraschend gewesen, da das OLG Dresden die Voraussetzungen des § 16 Abs. 2 StrRehaG nicht angenommen habe. Hätte das Verwaltungsgericht „die zu seiner Entscheidung herangezogenen Berichte und angeblichen Folgemaßnahmen aus der Stasi-Akte des Klägers mit diesem entsprechend einer an der erheblichen Bedeutung der Entscheidung angemessenen Sachverhaltsaufklärung umfassend besprochen und auch noch andere Akten beigezogen, wäre es zu dem Ergebnis gekommen, dass es sich beim Kläger insgesamt zum einen nicht um eine rein freiwillige Tätigkeit für das MfS gehandelt hat und diese zum anderen im Einzelfall der letztlich immer nur allgemeinen oder belanglosen Berichterstattung meist bereits bekannten Inhaltes auch nicht geeignet war, andere Personen in einer Art und in einem notwendigen Maß so zu benachteiligen, dass deren Freiheits- und Menschenrechte hätten unterdrückt werden können.“ Insbesondere gebe es auch keinen positiven Beweis für eine Benachteiligung einer dritten Person.

4 Das Verwaltungsgericht hat - entgegen der Auffassung des Klägers - seine verfahrensrechtlichen Pflichten nicht verletzt. Zunächst verkennt die Beschwerde, dass die Sachverhalts- und Beweiswürdigung durch ein Tatsachengericht regelmäßig dem sachlichen Recht (und nicht dem gerichtlichen Verfahrensrecht) zuzurechnen ist. Davon abgesehen hat das Verwaltungsgericht in seinen Urteilsgründen im Einzelnen dargelegt, warum seines Erachtens Folgeleistungen des Klägers nach § 4 BerRehaG ausgeschlossen sind (vgl. UA S. 9 - 13). In Auseinandersetzung mit dem klägerischen Vorbringen hat es sich anhand von tatsächlichen Gegebenheiten und nachvollziehbaren Überlegungen eine Überzeugungsgewissheit verschafft, ohne dass ihm dabei Verstöße gegen die Denkgesetze unterlaufen wären. Es hat die gegenteiligen Äußerungen des Klägers zur Kenntnis genommen, aber anders gewürdigt als dieser; darin liegt kein verfahrensrechtlich beachtlicher Verstoß. Zudem war nach der für die Prüfung eines Verfahrensverstoßes maßgeblichen Auffassung der Vorinstanz keine weitere Aufklärung geboten. Zwar erfüllt eine Tätigkeit als Informeller Mitarbeiter nicht ohne weiteres die Voraussetzungen des § 4 BerRehaG. Der Ausschlusstatbestand ist vielmehr nur beim Vorliegen erheblicher gegen die Gemeinschaftsordnung verstoßender Handlungen erfüllt. Dies ist der Fall, wenn jemand freiwillig und gezielt, insbesondere auch durch Eindringen in die Privatsphäre anderer und Missbrauch persönlichen Vertrauens, Informationen über Mitbürger gesammelt und an den auch in der DDR für seine repressive und menschenverachtende Tätigkeit bekannten Staatssicherheitsdienst weitergegeben hat. Es genügt, dass sich der Einzelne als Denunziant oder Spitzel freiwillig betätigte, um hieraus eigene Vorteile zu erlangen (vgl. für § 16 Abs. 2 StrRehaG BTDrucks 12/1608 S. 24). Das Verhalten ist demgegenüber nicht vorwerfbar, wenn die IM-Tätigkeit unfreiwillig erfolgte (vgl. für § 4 BerRehaG BTDrucks 12/4994 S. 45). Dementsprechend hat der Senat entschieden, dass eine freiwillige Spitzeltätigkeit für die Stasi unter Inkaufnahme einer Drittschädigung im Regelfall einen Verstoß gegen die Grundsätze der Menschlichkeit oder Rechtsstaatlichkeit begründet (Urteile vom 8. März 2002 - BVerwG 3 C 23.01 - BVerwGE 116, 100 und vom 19. Januar 2006 - BVerwG 3 C 11.05 ).

5 Davon abgesehen braucht ein Tatsachengericht nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts keine Beweiserhebung durchzuführen, die eine anwaltlich vertretene Partei nicht beantragt und die sich auch nicht aus anderen Gründen aufgedrängt hat. Die Rüge, der Sachverhalt sei nicht von Amts wegen erschöpfend aufgeklärt worden, kann nicht dazu dienen, Beweisanträge zu ersetzen, die eine Partei selbst zumutbarerweise stellen konnte, aber zu stellen unterlassen hat. Angesichts des Verhaltens der Rechtsanwältin des Klägers in der mündlichen Verhandlung am 9. Juni 2005 einerseits und der vom Verwaltungsgericht im Einzelnen dargelegten Erwägungen (vgl. UA S. 13 - 17) andererseits kann auch keine Rede davon sein, dass sich dem Gericht die Erhebung weiterer Beweise hätte aufdrängen müssen.

6 Auch der Vorwurf, das Gericht habe dem Kläger weder schriftlich noch mündlich Anlass und Gelegenheit zur Akteneinsicht gegeben und dadurch dessen Verfahrensrechte und insbesondere seinen Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt, geht daran vorbei, dass die maßgeblichen Vorgänge Inhalt der Behördenakte sind, die der Beklagte als Anlage zu seinem Schriftsatz vom 25. Juli 2002 dem Verwaltungsgericht vorgelegt hat. Darauf ist in diesem Schriftsatz, der den Prozessbevollmächtigten des Klägers übersandt worden ist, hingewiesen worden. Das Versäumnis der Prozessbevollmächtigten, im Hinblick auf die gegen den Kläger erhobenen Vorwürfe Einsicht in diese Akte zu nehmen, kann nicht im Nachhinein durch eine Verfahrensrüge wettgemacht werden.

7 Schließlich liegt auch keine (unzulässige) Überraschungsentscheidung vor. Das setzte voraus, dass das Urteil auf neue Gesichtspunkte abstellte, mit denen ein verständiger Prozessbeteiligter aufgrund des bisherigen Verlaufs des Verfahrens nicht rechnen konnte und musste (stRspr, vgl. etwa Beschluss vom 28. Dezember 1999 - BVerwG 9 B 467.99 - Buchholz 310 § 86 Abs. 3 VwGO Nr. 51). Nachdem in dem angefochtenen Bescheid wie im Widerspruchsbescheid angenommen wurde, dass der Kläger die Voraussetzungen des § 4 BerRehaG erfüllt, ist nicht nachzuvollziehen, aus welchem Grunde es für den Kläger überraschend gewesen sein soll, dass auch das Verwaltungsgericht dem gefolgt ist. Allein die Tatsache, dass das Oberlandesgericht hinsichtlich des § 16 Abs. 2 StrRehaG zugunsten des Klägers entschieden hat, lässt die getroffene Entscheidung des Verwaltungsgerichts nicht zu einer Überraschungsentscheidung werden. Das gleiche gilt für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts hinsichtlich der Prozesskostenhilfe, die keinesfalls das jetzige Ergebnis des Prozesses ausschloss. Es wurde vielmehr lediglich konstatiert, aufgrund summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage sei eine gewisse Wahrscheinlichkeit dafür nicht auszuschließen, dass der Kläger mit seinem Begehren durchdringen könnte. Zudem ist das Gericht zu einer vorherigen Mitteilung der beabsichtigten Würdigung des Prozessstoffs nach ständiger Rechtsprechung grundsätzlich nicht verpflichtet, zumal sich diese regelmäßig erst aufgrund der abschließenden Beratung ergibt (Beschluss vom 28. Dezember 1999 - BVerwG 9 B 467.99 - a.a.O. m.w.N.).