Beschluss vom 15.07.2008 -
BVerwG 8 B 24.08ECLI:DE:BVerwG:2008:150708B8B24.08.0

Beschluss

BVerwG 8 B 24.08

  • VG Frankfurt/Oder - 08.11.2007 - AZ: VG 4 K 15/02

In der Verwaltungsstreitsache hat der 8. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 15. Juli 2008
durch den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Pagenkopf,
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. von Heimburg und
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Postier
beschlossen:

  1. Das Urteil des Verwaltungsgerichts Frankfurt (Oder) vom 8. November 2007 wird aufgehoben.
  2. Der Rechtsstreit wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Verwaltungsgericht zurückverwiesen.
  3. Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
  4. Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 200 000 € festgesetzt.

Gründe

1 Die zulässige Beschwerde ist begründet. Es liegt ein geltend gemachter Verfahrensmangel vor, auf dem die Entscheidung beruhen kann (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO). Das angefochtene Urteil verletzt den Anspruch der Beigeladenen auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 VwGO).

2 Nach § 108 Abs. 2 VwGO darf das Urteil nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt werden, zu denen die Beteiligten sich äußern konnten. Die Vorschrift konkretisiert die Gewährleistung des rechtlichen Gehörs gemäß Art. 103 Abs. 1 GG. Das Gebot zur Gewährung rechtlichen Gehörs verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Die Beteiligten müssen demgemäß auch Gelegenheit erhalten, sich zu allen entscheidungserheblichen Tatsachen und zu den entscheidungserheblichen Rechtsfragen sachgemäß, zweckentsprechend und erschöpfend erklären zu können. Der Anspruch auf rechtliches Gehör ist deshalb grundsätzlich verletzt, wenn den Beteiligten in der mündlichen Verhandlung oder im schriftlichen Verfahren eine Äußerungs- oder Schriftsatzfrist eingeräumt wird, gleichwohl aber vor deren Ablauf eine Entscheidung ergeht (vgl. BVerfG, Entscheidung vom 14. Juni 1960 - 2 BvR 96/60 - BVerfGE 11, 218 <220> sowie Beschlüsse vom 27. Februar 1980 - 1 BvR 277/78 - BVerfGE 53, 219 <222> und vom 16. März 1982 - 1 BvR 1336/81 - BVerfGE 60, 120 <123>; Urteile vom 29. November 1985 - BVerwG 9 C 49.85 - Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 177, vom 15. August 1991 - BVerwG 4 C 11.90 - Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 238 und vom 5. März 1992 - BVerwG 3 C 48.90 - Buchholz 427.6 § 15 BFG Nr. 31).

3 Kenntnisnahme und Berücksichtigung entscheidungserheblichen Vorbringens wird von allen Richtern gefordert, die an der Entscheidung mitwirken. Dies folgt daraus, dass das Urteil gemäß § 112 VwGO von den Richtern und den ehrenamtlichen Richtern zu fällen ist, die an der dem Urteil zugrunde liegenden mündlichen Verhandlung teilgenommen haben. Die Pflicht zur Kenntnisnahme vorbehaltenen Vorbringens obliegt ebenfalls allen Richtern, die an der Entscheidung mitwirken; eine Kenntnisnahme allein der Berufsrichter von nachgereichten Schriftsätzen, die bis zum Ablauf der eingeräumten Äußerungsfrist eingehen, genügt nicht.

4 Das Verfahren des Verwaltungsgerichts wird diesen Anforderungen nicht gerecht. In der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht am 22. Oktober 2007 war der Beigeladenen eine Schriftsatzfrist von zwei Wochen eingeräumt worden, um auf den Schriftsatz des Prozessbevollmächtigten der Klägerin vom 10. Oktober 2007 erwidern zu können. Dementsprechend hat die Beigeladene am 5. November 2007 einen Schriftsatz nachgereicht. Ausweislich der Stellungnahme des Berichterstatters der 4. Kammer des Verwaltungsgerichts vom 15. Januar 2008 erfolgte die Urteilsberatung unter Beteiligung aller fünf Richter aber im Anschluss an die mündliche Verhandlung am 22. Oktober 2007. Im Hinblick auf den nachgereichten Schriftsatz der Beigeladenen habe sich die Kammer mit der Frage auseinandergesetzt, ob aufgrund des darin enthaltenen Vorbringens die mündliche Verhandlung gemäß § 104 Abs. 3 Satz 2 VwGO wieder zu eröffnen sei. Nach Auffassung der Kammer sei dies nicht der Fall gewesen, weil der nachgereichte Schriftsatz kein wesentlich neues erhebliches Vorbringen enthielte, das geeignet gewesen wäre, das Beratungsergebnis vom 22. Oktober 2007 in Frage zu stellen. Da diese Entscheidung außerhalb der mündlichen Verhandlung ergangen sei, sei sie ohne die Mitwirkung der ehrenamtlichen Richter erfolgt. Die Kammer habe in den Entscheidungsgründen des Urteils dargelegt, warum das nachträgliche Vorbringen entscheidungsunerheblich sei, weshalb eine Wiedereröffnung nicht in Betracht gekommen sei, so dass es keines gesonderten Beschlusses bedurft habe.

5 Die Versagung rechtlichen Gehörs ist damit nicht ausgeräumt. Denn es fehlt an der gebotenen abschließenden Entscheidungsfindung unter Teilnahme auch der ehrenamtlichen Richter, denen der Inhalt des nachgereichten Schriftsatzes nicht zur Kenntnis gelangt ist. Die Frage der Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung musste sich insoweit nicht stellen, denn den ehrenamtlichen Richtern hätte der Inhalt des nachgereichten Schriftsatzes auch in einer abschließenden Beratung zur Kenntnis gegeben werden können.

6 Nach § 138 Nr. 3 VwGO gilt die Versagung des rechtlichen Gehörs stets als ursächlich für die angefochtene Entscheidung. Das ist ausnahmsweise dann nicht der Fall, wenn der Verfahrensverstoß unter keinem denkbaren Gesichtspunkt für die Entscheidung erheblich sein konnte, insbesondere eine unberücksichtigt gebliebene Äußerung „neben der Sache“ liegt (vgl. Urteile vom 29. November 1985 - BVerwG 9 C 49.85 - a.a.O. und vom 5. März 1992 - BVerwG 3 C 48.90 - a.a.O.). Doch beruht die angefochtene Entscheidung bereits dann auf der Verletzung des rechtlichen Gehörs, wenn nicht ausgeschlossen werden kann, dass das nachgelassene Vorbringen zu einer anderen Entscheidung geführt haben könnte (Urteil vom 15. August 1991 - BVerwG 4 C 11.90 - a.a.O. m.w.N.). Die Nichtberücksichtigung des nachgereichten Schriftsatzes der Beigeladenen lässt sich danach auch nicht ausnahmsweise rechtfertigen.

7 Die Beigeladene hatte in diesem Schriftsatz - insoweit replizierend auf den Schriftsatz der Klägerin vom 10. Oktober 2007 - erstmals im Rahmen der Argumentation zu § 1 Abs. 3 VermG das Argument vorgebracht, dass es sich um eine „überschießende Enteignung“ handele, weil wesentliche Teile der enteigneten Grundstücke mit Bodenschätzen oder deren Gewinnung oder Verarbeitung nichts zu tun gehabt hätten. Das Bodenschätzegesetz von 1947 habe aber nur zur Enteignung von Bodenschätzen selbst, zur Enteignung von Grundstücken, in denen Bodenschätze lagern und zur Enteignung von Anlagen und Betriebseinrichtungen gedient, die zur Gewinnung, Bearbeitung oder Verarbeitung von Bodenschätzen notwendig waren. Das Urteil des Verwaltungsgerichts setzt sich mit diesem Einwand zwar auseinander, indem es (UA S. 15) ausführt: „Die Kammer vermag dem Einwand der Beigeladenen, es liege eine ‚überschießende’ Enteignung vor, weil nur ein geringer Anteil von 12 500 m2 ein Alaun- bzw. Tonvorkommen aufweise und die Enteignung der übrigen Flächen nicht erforderlich gewesen sei, nicht zu folgen.“ Insoweit kann „die Kammer“ aber nur aus den drei Berufsrichtern bestanden haben, da bei der abschließenden Beratung mit den ehrenamtlichen Richtern am 22. Oktober 2007 dieses Argument noch nicht vorgebracht worden war.

8 Der festgestellte Verfahrensmangel führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils. Im Interesse der Verfahrensbeschleunigung macht der Senat von der Möglichkeit Gebrauch, das angefochtene Urteil durch Beschluss aufzuheben und den Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Verwaltungsgericht zurückzuverweisen (§ 133 Abs. 6 VwGO).

9 Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 3, § 52 Abs. 1 GKG.