Urteil vom 10.01.2007 -
BVerwG 1 D 15.05ECLI:DE:BVerwG:2007:100107U1D15.05.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Urteil vom 10.01.2007 - 1 D 15.05 - [ECLI:DE:BVerwG:2007:100107U1D15.05.0]

Urteil

BVerwG 1 D 15.05

  • VG Düsseldorf - 20.07.2005 - AZ: VG 37 K 2271/05.BDG

In dem Disziplinarverfahren hat das Bundesverwaltungsgericht, Disziplinarsenat,
in der nichtöffentlichen Hauptverhandlung am 10. Januar 2007,
an der teilgenommen haben:
Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Müller als Vorsitzender,
Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Bayer,
Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Heitz,
Amtsinspektor Kroppen und
Postbetriebsassistentin Zwack
als ehrenamtliche Richter
sowie
Postdirektor ...
als Vertreter der Einleitungsbehörde,
Rechtsanwältin ...
als Verteidigerin
und
...
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,
für Recht erkannt:

  1. Auf die Berufung des Postbetriebsassistenten a.D. ... wird das Urteil des Verwaltungsgerichts ... vom 20. Juli 2005 aufgehoben.
  2. Das Verfahren wird eingestellt.
  3. Die Kosten des Verfahrens einschließlich der dem Ruhestandsbeamten hierin erwachsenen notwendigen Auslagen werden dem Bund auferlegt.

Gründe

I

1 1. In dem ordnungsgemäß eingeleiteten förmlichen Disziplinarverfahren hat der Leiter der Einleitungsbehörde den ... Ruhestandsbeamten angeschuldigt, dadurch ein Dienstvergehen begangen zu haben, dass er
in der Zeit vom 8. Februar bis 22. Mai 2000 während seiner aktiven Dienstzeit als Briefzusteller mit Verbundtätigkeiten beim Zustellstützpunkt B. vier von ihm eingezogene Nachnahmebeträge, insgesamt 2 265,90 DM (1 158,54 €), nicht abgeliefert und mit der Postkasse verrechnet, sondern für eigene private Zwecke verbraucht hat.

2 Im sachgleichen Strafverfahren ist der Ruhestandsbeamte durch rechtskräftiges Urteil des Amtsgerichts ... vom 18. Februar 2004 wegen veruntreuender Unterschlagung unter gleichzeitiger Bestimmung einer Gesamtgeldstrafe von 60 Tagessätzen zu je 50 € (3 000 €) verwarnt worden. Die Verurteilung zu der vorbehaltenen Strafe wurde zur Bewährung ausgesetzt.

3 2. Das Verwaltungsgericht ... hat mit Urteil vom 20. Juli 2005 entschieden, dass dem Ruhestandsbeamten das Ruhegehalt aberkannt wird; zugleich hat es ihm einen Unterhaltsbeitrag in Höhe von 75 v.H. seines erdienten Ruhegehalts auf die Dauer von sechs Monaten bewilligt. Es ist in seiner Entscheidung aufgrund der gemäß § 18 Abs. 1 Satz 1 BDO bindenden tatsächlichen Feststellungen im Urteil des Amtsgerichts von folgendem, vom Ruhestandsbeamten eingeräumten Sachverhalt ausgegangen:

4 Der Ruhestandsbeamte hatte sich in seiner Eigenschaft als Postzusteller in B. in der Zeit vom 8. Februar bis 22. Mai 2000 in vier Fällen einbehaltene Nachnahmebeträge für folgende Nachnahmesendungen zugeeignet, und zwar
a) am 8. Februar 2000 eine Sendung der Firma M. GmbH über 1 298 DM,
b) am 29. Februar 2000 eine Sendung der E. GmbH über 523 DM,
c) am 8. März 2000 eine Sendung der Firma K. über 366,17 DM und
d) am 22. Mai 2000 eine Sendung der Firma H. GmbH über 78,73 DM.
Zur Verwendung der von ihm unterschlagenen Nachnahmebeträge habe sich der Ruhestandsbeamte in der Hauptverhandlung dahingehend eingelassen, dass er das Geld für „nichts Bestimmtes“ ausgegeben, sondern „einfach so“ behalten habe.

5 Das Verwaltungsgericht hat die festgestellte Handlungsweise des damals aktiven Beamten als vorsätzlich schuldhaft begangenes Dienstvergehen (§ 77 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 54 Satz 2 und 3, § 55 Satz 2 BBG) bewertet. Anhaltspunkte dafür, dass wegen des Rückfalls in die „nasse Phase“ des Alkoholismus Anfang 2000 die Schuldfähigkeit des Ruhestandsbeamten erheblich vermindert oder gar ausgeschlossen gewesen sein könne, seien nicht ersichtlich. Das Dienstvergehen wiege schwer und führe zur Aberkennung des Ruhegehalts. Ein Postbeamter, der wiederholt Nachnahmebeträge unterschlage und für private Zwecke verwende, versage im Kernbereich der ihm obliegenden Dienstpflichten. Er zerstöre dadurch regelmäßig das für die Fortdauer des Beamtenverhältnisses notwendige Vertrauen in seine Ehrlichkeit und Zuverlässigkeit, auf das die Post wegen der Unmöglichkeit einer lückenlosen Kontrolle ihrer Bediensteten angewiesen sei. Durchgreifende, insbesondere „anerkannte Milderungsgründe“ lägen nicht vor. Die Maßnahme verstoße auch nicht gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.

6 3. Hiergegen hat der Ruhestandsbeamte durch seinen Verteidiger rechtzeitig Berufung eingelegt. Er beantragt, unter Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils auf eine mildere Maßnahme zu erkennen mit der Folge, dass das Verfahren einzustellen sei. Zur Begründung macht er im Wesentlichen geltend:

7 Er habe die Taten gestanden. Die strafgerichtlichen Feststellungen würden nicht angegriffen. Die Entscheidung sei jedoch in mehrfacher Hinsicht unangemessen und unverhältnismäßig. Das Verwaltungsgericht hätte nach entsprechender Aufklärung die fehlende Kontrolle bei der Abwicklung von Nachnahmesendungen und beim Umgang mit Geld als Minderung seiner Eigenverantwortung zu seinen Gunsten berücksichtigen müssen. Insoweit liege ein Organisationsverschulden der Post vor, das sich als beamtenrechtliche Fürsorgepflichtverletzung darstelle. Bemessungsrelevant sei ferner die milde Kriminalstrafe, der geringe Schaden und die Tatsache, dass dieser inzwischen ausgeglichen sei. Mildernd hätten auch seine beiden Erkrankungen und deren Folgen (Alkoholismus, extreme Beeinträchtigung der Artikulationsmöglichkeiten im Kehlkopfbereich aufgrund eines Karzinoms) berücksichtigt werden müssen.

II

8 Die Berufung des Ruhestandsbeamten hat Erfolg und führt zur Einstellung des Verfahrens.

9 Das Disziplinarverfahren ist nach bisherigem Recht, d.h. auch nach Inkrafttreten des Bundesdisziplinargesetzes am 1. Januar 2002 nach den Verfahrensregeln und -grundsätzen der Bundesdisziplinarordnung fortzuführen, weil es vor dem 1. Januar 2002 förmlich eingeleitet worden ist. Allerdings können auf so genannte Altfälle - wie hier - ausnahmsweise die Vorschriften des Bundesdisziplinargesetzes Anwendung finden, soweit diese den beschuldigten Beamten materiellrechtlich besserstellen (stRspr, z.B. Urteil vom 23. Februar 2005 - BVerwG 1 D 13.04 - BVerwGE 123, 75 <76> m.w.N.). Ungeachtet dessen sind der Bemessung der Disziplinarmaßnahme die Regelungen des § 13 Abs. 1 und 2 BDG, die auch auf Altfälle anwendbar sind (vgl. z.B. Urteile vom 11. Oktober 2006 - BVerwG 1 D 10.05 - und vom 23. November 2006 - BVerwG 1 D 1.06 -), zugrunde zu legen.

10 Das Rechtsmittel ist auf die Disziplinarmaßnahme beschränkt. Mit der Berufungsbegründung werden lediglich Umstände geltend gemacht, die für die Bemessung der Disziplinarmaßnahme von Bedeutung sein können. Der Senat ist daher an die erstinstanzlichen Feststellungen zur Tat sowie an die vorgenommene disziplinarrechtliche Würdigung der festgestellten Pflichtverletzungen als vorsätzlich schuldhaft begangenes innerdienstliches Dienstvergehen gebunden. Er hat nur noch über die angemessene Disziplinarmaßnahme zu befinden.

11 1. Welche Disziplinarmaßnahme im Einzelfall angemessen ist, richtet sich nach der Schwere des Dienstvergehens, dem Persönlichkeitsbild des Beamten sowie der Beeinträchtigung des Vertrauens des Dienstherrn oder der Allgemeinheit (vgl. nunmehr § 13 Abs. 1 Satz 2 bis 4 BDG). Eine Aberkennung des Ruhegehalts wegen eines während des aktiven Dienstes begangenen Dienstvergehens setzt voraus, dass der Ruhestandsbeamte als noch im Dienst befindlicher Beamter aus dem Beamtenverhältnis hätte entfernt werden müssen (vgl. nunmehr § 13 Abs. 2 Satz 2 BDG). Die Entfernung aus dem Beamtenverhältnis ist dann auszusprechen, wenn der Beamte durch ein schweres Dienstvergehen das Vertrauen des Dienstherrn oder der Allgemeinheit endgültig verloren hat (vgl. nunmehr § 13 Abs. 2 Satz 1 BDG). Bei der Frage nach der Schwere des Dienstvergehens ist maßgebend auf das Eigengewicht der Verfehlung abzustellen. Hierfür können bestimmend sein objektive Handlungsmerkmale (insbesondere Eigenart und Bedeutung der Dienstpflichtverletzung sowie besondere Umstände der Tatbegehung), subjektive Handlungsmerkmale (insbesondere Form und Gewicht der Schuld) sowie unmittelbare Folgen des Dienstvergehens für den dienstlichen Bereich und für Dritte (Urteil vom 20. Oktober 2005 - BVerwG 2 C 12.04 - BVerwGE 124, 252 <259>).

12 Hat sich der Beamte bei der Ausübung seiner dienstlichen Tätigkeit an Vermögenswerten vergriffen, die als dienstlich anvertraut seinem Gewahrsam unterliegen, ist ein solches Dienstvergehen „regelmäßig“ geeignet, das Vertrauensverhältnis zu zerstören (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 19. Februar 2003 - 2 BvR 1413/01 - NVwZ 2003, 1504 <1504 f.> m.w.N.), so dass in diesen Fällen die Entfernung aus dem Beamtenverhältnis bzw. die Aberkennung des Ruhegehalts grundsätzlich Ausgangspunkt der Bestimmung der angemessenen Disziplinarmaßnahme ist. Die von der Schwere ausgehende Indizwirkung entfällt, wenn zugunsten des Beamten gewichtige Entlastungsgründe zu berücksichtigen sind, die den Schluss rechtfertigen, der Beamte habe das Vertrauen noch nicht endgültig verloren. Solche Gründe stellen auch, aber nicht nur die sog. anerkannten Milderungsgründe dar. Entlastungsgründe können sich aus allen Umständen ergeben; sie müssen in ihrer Gesamtheit geeignet sein, die Schwere des Pflichtenverstoßes erheblich herabzusetzen. Erforderlich ist stets eine Prognoseentscheidung zum Umfang der Vertrauensbeeinträchtigung auf der Grundlage aller im Einzelfall be- und entlastenden Umstände. Entlastungsgründe sind bereits dann einzubeziehen, wenn hinreichende tatsächliche Anhaltspunkte für ihr Vorliegen sprechen (Urteil vom 20. Oktober 2005 a.a.O. <263>).

13 Das dem Ruhestandsbeamten zur Last gelegte Dienstvergehen wiegt schwer: Der Ruhestandsbeamte hat nach den bindenden Feststellungen der Vorinstanz innerhalb von mehr als drei Monaten in vier Fällen als Briefzusteller mit Verbundtätigkeiten ihm dienstlich anvertraute Nachnahmegelder unterschlagen, wodurch der Post und ihren Kunden ein über die Bagatellgrenze von etwa 100 DM (ca. 50 €) hinausgehender Schaden (vgl. dazu Urteil vom 11. Juni 2002 - BVerwG 1 D 31.01 - BVerwGE 116, 308) in Höhe von insgesamt 2 265,90 DM entstanden ist. Dadurch hat der Ruhestandsbeamte Pflichten im Kernbereich der Aufgaben eines als Briefzusteller tätigen Postbeamten verletzt.

14 2. Bei der gebotenen Gesamtabwägung sprechen hinreichende tatsächliche Anhaltspunkte für das Vorliegen entlastender Umstände, die insgesamt einem endgültigen Vertrauensverlust entgegenstehen.

15 a) Hinreichende tatsächliche Anhaltspunkte für ein persönlichkeitsfremdes Verhalten des Ruhestandsbeamten in einer Notstands- oder Konfliktsituation vor oder bei dem Dienstvergehen (z.B. Handeln in einer wirtschaftlichen Notlage, psychischen Ausnahmesituation oder einmaligen Versuchungssituation, vgl. dazu Urteil vom 20. Oktober 2005 a.a.O. <259 f., 262> m.w.N.) lagen allerdings nicht vor. Dies hat das Verwaltungsgericht unter Hinweis auf die entsprechenden „anerkannten Milderungsgründe“ zu Recht ausgeführt (UA S. 6 bis 7); darauf wird Bezug genommen. Der Ruhestandsbeamte hat in der Hauptverhandlung vor dem Senat auch nicht behauptet, sich damals in einer solchen Notstands- oder Konfliktsituation befunden zu haben. Ihm kommen aber auch die „anerkannten Milderungsgründe“, die sich auf - insbesondere nachträgliche - Verhaltensweisen mit noch günstigen Persönlichkeitsprognosen beziehen (z.B. freiwillige Wiedergutmachung des Schadens oder freiwillige Offenbarung des Fehlverhaltens vor Tatentdeckung, Zugriff auf geringwertige Gelder, vgl. dazu Urteil vom 20. Oktober 2005 a.a.O. <259 f., 262> m.w.N.), nicht zugute. Der Ruhestandsbeamte hat den gesamten, nicht geringen Schaden erst nach der Aufdeckung der Pflichtenverstöße ausgeglichen.

16 b) Da die Indizwirkung für einen endgültigen Vertrauensverlust dann entfällt, wenn hinreichende tatsächliche Anhaltspunkte für einen gewichtigen und im Einzelfall durchgreifenden Entlastungsgrund festgestellt werden können, darf sich die Würdigung nicht auf die Verneinung „anerkannter Milderungsgründe“ beschränken. Bei so genannten Zugriffsdelikten - wie hier - kann es auch andere Entlastungsgründe vergleichbaren Gewichts - z.B. aufgrund einer anderen Ausnahmesituation - geben, die bei einem Beamten im aktiven Dienst die Annahme eines Restvertrauens rechtfertigen können. Bei der prognostischen Frage, ob bei einem Beamten aufgrund eines schweren Dienstvergehens ein endgültiger Vertrauensverlust eingetreten ist, gehören zur Prognosebasis daher alle für diese Einschätzung bedeutsamen belastenden und entlastenden Bemessungsgesichtspunkte. Dies gebieten sowohl das gesetzliche Bemessungskriterium „angemessene Berücksichtigung des Persönlichkeitsbildes des Beamten“ (vgl. § 13 Abs. 1 Satz 3 BDG) als auch der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (Übermaßverbot). Die gesamte Prognosegrundlage muss in der Entscheidung des Gerichts dargelegt werden; ob sie dann den Schluss auf einen noch verbliebenen Rest an Vertrauen in die Person des Beamten zulässt, ist eine Frage der Gesamtabwägung im Einzelfall (Urteil vom 20. Oktober 2005 a.a.O. <261 ff.> m.w.N.).

17 Es bestehen hinreichende tatsächliche Anhaltspunkte dafür, dass sich der Ruhestandsbeamte zur Tatzeit (8. Februar bis 22. Mai 2000) in einer so außergewöhnlichen Situation befand, dass von ihm ein an normalen Maßstäben orientiertes dienstpflichtgemäßes Verhalten nach den Umständen des Einzelfalls nicht erwartet werden konnte (vgl. dazu und zu ähnlichen Ausnahmesituationen Urteil vom 20. Oktober 2005 a.a.O. <262> sowie Urteil vom 28. Oktober 2003 - BVerwG 2 WD 10.03 - DokBerB 2004, 193 <195 f.> m.w.N.): Die veruntreuenden Unterschlagungen der Nachnahmebeträge fanden in der „nassen Phase“ der Alkoholkrankheit des Ruhestandsbeamten statt; es ist nicht ausgeschlossen, dass alkoholische Ausfallerscheinungen für die Unterschlagungen ursächlich waren (aa). Hinzu kommt eine nicht unerhebliche Minderung der Eigenverantwortung des Ruhestandsbeamten zur Tatzeit aufgrund unzureichender Dienstaufsicht (bb). Diese Umstände mindern - insgesamt gesehen - die Schwere des Dienstvergehens und sind nach der gebotenen Gesamtabwägung geeignet, bei einem Beamten im aktiven Dienst die Annahme eines Rests an Vertrauen zu rechtfertigen.

18 aa) Die Unterschlagung der vier Nachnahmebeträge erfolgte in der „nassen Phase“ der Alkoholkrankheit des Ruhestandsbeamten, der sich bisher drei Entwöhnungsbehandlungen unterzogen hat. Der Ruhestandsbeamte war nach der ersten stationären Alkoholentziehungstherapie (Herbst 1998) zu Anfang des Jahres 2000 rückfällig geworden. Seinen Rückfall hat der Ruhestandsbeamte nicht nur gegenüber Postvertragsarzt Dr. S. sinngemäß eingeräumt, sondern hat am 31. August 2000 gegenüber dem Vorermittlungsführer selbst angegeben, seit Januar 2000 trinke er „schon mal Alkohol“. Dass es sich dabei um nicht geringe Mengen gehandelt haben muss, hat der Ruhestandsbeamte nicht nur in der Hauptverhandlung vor dem Senat unwiderlegbar geschildert, sondern ergibt sich auch aus Kundenhinweisen aus jenem Zeitraum. In der dienstlichen Beurteilung vom 13. Juli 2000 ist dementsprechend festgehalten, der Ruhestandsbeamte habe in eindeutig alkoholisiertem Zustand versucht, eine nachzuweisende Sendung zu übergeben, was ihm aufgrund seines Zustandes nur mit großen Problemen gelungen sei. Wegen Alkoholauffälligkeit im Dienst am 8. Juni 2000 war der Ruhestandsbeamte am Folgetag aus seiner „Tour herausgenommen“ worden. Der Rückfall in die Alkoholabhängigkeit ist letztlich durch die von Dr. S. im Juni 2000 erhobenen Laborbefunde bestätigt worden.

19 Es ist nicht auszuschließen, dass der Ruhestandsbeamte alkoholbedingt auf die Nachnahmegelder zugegriffen hat. In der Hauptverhandlung vor dem Senat hat der Ruhestandsbeamte u.a. angegeben, er habe damals während des Dienstes sehr häufig kleine Pikkoloflaschen (Sekt) zu sich genommen, etwa drei bis vier pro Zustellgang; er habe während der Zustellgänge fast regelmäßig getrunken. Die Richtigkeit dieser Einlassung wird insoweit bestätigt, als der Qualitätsbeauftragte Q am 8. Juni 2000 im Handschuhfach des Dienstwagens des Ruhestandsbeamten zwei volle Sektflaschen 0,2 l, eine halbleere und eine leere Sektflasche gefunden hatte. Zwar hatte der Ruhestandsbeamte anfangs immer wieder behauptet, nur außerhalb des Dienstes, d.h. in der Freizeit alkoholische Getränke zu sich genommen zu haben. Dies war aber von vornherein nicht glaubhaft, da er auch im Dienst wiederholt alkoholauffällig war; unmittelbar vor der erfolgreichen Durchsuchung seines Dienstwagens am 8. Juni 2000 hatte er z.B. noch angegeben, keinen Alkohol mehr zu trinken. Nach der gutachterlichen Stellungnahme des Dr. S. vom 27. Juni 2000 sprechen auch die Laborwerte des Ruhestandsbeamten gegen geringe Trinkmengen und damit gegen die Behauptung, im Dienst nicht getrunken zu haben. In der Hauptverhandlung vor dem Senat hat der Ruhestandsbeamte erklärt, er habe damals versucht, seine Alkoholkrankheit und sein Trinkverhalten im Dienst zu verschleiern. Dies nimmt der Senat dem Ruhestandsbeamten ab. Es ist allgemein bekannt, dass insbesondere rückfällige Alkoholiker dazu neigen, ihren Alkoholkonsum zu verheimlichen und zu bagatellisieren.

20 Auch wenn der Konsum von etwa drei bis vier Pikkolos und das Vorhandensein von Restalkohol vom Vorabend - nach eigenen Angaben hat der Ruhestandsbeamte häufig bis spät abends getrunken - bei einem Alkoholiker möglicherweise noch nicht zu erheblicher Alkoholisierung führen, ist gleichwohl nicht auszuschließen, dass alkoholische Ausfallerscheinungen für die Unterschlagungen ursächlich waren. Die Nachnahmebeträge waren vom Ruhestandsbeamten nicht abgerechnet worden. Zum Teil fehlten Zustellblätter, zum Teil fehlten Eintragungen. Bei seiner Vernehmung am 31. August 2000 hat sich der Ruhestandsbeamte zu der Nachnahmesendung über 523 DM dahin eingelassen, er könne sich weder an die Sendung noch deren Auslieferung und Abrechnung erinnern. Dies ist dem Ruhestandsbeamten nicht zu widerlegen; zu seinen Gunsten muss davon ausgegangen werden, dass sich der alkoholisierte Zustand auf sein Verhalten ausgewirkt hat. In der Berufungshauptverhandlung hat der Ruhestandsbeamte angegeben, im Tatzeitraum sei es nach der Zustelltour in der Poststelle gelegentlich zu Trinkrunden gekommen, an denen zwei bis vier Personen beteiligt gewesen seien. Er habe bei diesen Gelegenheiten mehrere Flaschen Bier getrunken. Das Bier habe man von außerhalb mitgebracht. Der Bierkasten und das Leergut habe sich in einem abgeschlossenen Leerspind befunden. Erst im Anschluss an die Trinkrunden habe er die Abrechnungen für die Zustellgänge gemacht. Es ist nicht auszuschließen, dass die veruntreuenden Unterschlagungen in dieser Phase erfolgt sind.

21 Dem Ruhestandsbeamten kann die Behauptung, er habe vor den Abrechnungen gelegentlich noch mehrere Flaschen Bier in der Poststelle getrunken, nicht widerlegt werden. Zwar hat der damalige Gruppenführer O., der Anfang des Jahres 2000 die Weisung erhalten hatte, im Postamt B. jeglichen Alkoholgenuss zu unterbinden, als Auskunftsperson in der Hauptverhandlung vor dem Senat auf Nachfrage angegeben, seiner Meinung nach hätten damals keine Trinkrunden mehr stattgefunden; das wäre ihm am Leergut aufgefallen. Die Einlassung des Ruhestandsbeamten, man habe das Bier von außerhalb mitgebracht, das Leergut im Spind verschlossen und am Folgetag entsorgt, konnte Herr O. jedoch nicht entkräften, zumal seines Wissens nach in der Zeit nach 1998 keine Spindkontrollen mehr stattgefunden hatten.

22 bb) Dem Ruhestandsbeamten kommt ferner eine nicht unerhebliche Minderung seiner Eigenverantwortung zur Tatzeit aufgrund unzureichender Dienstaufsicht zugute. Eine Vernachlässigung der Aufsichtspflicht durch Vorgesetzte kann unter dem Gesichtspunkt der Verletzung der Fürsorgepflicht oder des „Mitverschuldens“ als Mitursache einer dienstlichen Verfehlung bei der Bemessung der Disziplinarmaßnahme mildernd berücksichtigt werden, wenn konkrete Anhaltspunkte für besondere Umstände vorlagen, die ausreichende Kontrollmaßnahmen unerlässlich machten, solche aber pflichtwidrig unterblieben oder nur unzureichend durchgeführt wurden (vgl. zur früheren Rechtsprechung bei so genannten Zugriffsdelikten z.B. Urteil vom 22. Oktober 2002 - BVerwG 1 D 6.02 - und Urteil vom 12. Juni 2001 - BVerwG 1 D 31.00 - unter Hinweis auf das Urteil vom 19. September 1985 - BVerwG 2 WD 63.84 - BVerwGE 83, 52 ff.; vgl. zum Wehrdisziplinarrecht auch Urteil vom 21. Mai 1996 - BVerwG 2 WD 22.95 - BVerwGE 103, 321 <327> und Urteil vom 17. Oktober 2002 - BVerwG 2 WD 14.02 - Buchholz 236.1 § 12 SG Nr. 19).

23 Zwar ist grundsätzlich davon auszugehen, dass beim Umgang mit dienstlich anvertrauten Geldern eine ständige und lückenlose Kontrolle eines jeden Mitarbeiters unmöglich ist. Im vorliegenden Fall gab es jedoch ausnahmsweise seit Anfang des Jahres 2000 konkrete Anhaltspunkte für besondere Umstände, die bezüglich des Ruhestandsbeamten regelmäßige dienstliche Kontrollmaßnahmen unerlässlich machten: Bereits im August 1997 war der Ruhestandsbeamte wegen alkoholbedingter Auffälligkeiten und häufiger dienstlicher Fehlzeiten dienstlich ermahnt und belehrt worden. Auch 1998 bestanden die Alkoholprobleme des Ruhestandsbeamten im Dienst fort. Am 25. März und 9. April 1998 kam es wegen nicht abgerechneter Nachnahmebeträge in Höhe von 474 DM und 189,50 DM zu Regressfällen; der Ruhestandsbeamte konnte im Ergebnis aber nicht haftbar gemacht werden. Am 29. April 1998 wurde mit ihm ein weiteres so genanntes Stufengespräch geführt. Gemäß dem postbetriebsärztlichen Gutachten vom 15. Mai 1998 bestand die Notwendigkeit der Durchführung einer Alkoholentziehungstherapie. Einer solchen stationären Behandlung unterzog sich der Ruhestandsbeamte in der Zeit vom 27. August bis 22. Oktober 1998; am 27. Oktober 1998 wurde er dienstlich über Gefahren des Alkoholmissbrauchs (Rückfall) und dessen - auch dienstliche - Folgen belehrt. Gleichwohl gab es nach Auskunft der Dienststelle auch in der Zeit von Oktober 1998 bis Anfang Juni 2000 „Hinweise auf Alkoholgenuss“. Wie dargelegt war der Ruhestandsbeamte, der damals als Verbundzusteller mit dem Dienstwagen im Einsatz war, spätestens Anfang des Jahres 2000 in die „nasse Phase“ der Alkoholsucht zurückgefallen. Der dienstlichen Beurteilung vom 13. Juli 2000 zufolge kam es im ersten Halbjahr zu einer auffälligen Häufung von Fehlbeträgen. Zudem hatten Postkunden beobachtet und gemeldet, dass der Ruhestandsbeamte in eindeutig alkoholisiertem Zustand versucht hatte, eine nachzuweisende Sendung zu übergeben, was ihm aufgrund seines Zustandes nur mit großen Problemen gelang. Postvertragsarzt Dr. S. hatte den Ruhestandsbeamten dann am 27. Juni 2000 als zurzeit durchgängig nicht dienstfähig eingestuft. Da der Ruhestandsbeamte unwiderlegbar aber schon im Januar 2000 rückfällig geworden war, ist nicht auszuschließen, dass er bereits im anschließenden Tatzeitraum zumindest zeitweise alkoholbedingt dienstunfähig war.

24 Aufgrund dieser besonderen Umstände war es geboten, den als Briefzusteller mit Verbundtätigkeiten eingesetzten Ruhestandsbeamten zumindest ab Anfang des Jahres 2000 ausreichend zu kontrollieren. Aus der Fürsorgepflicht des Dienstherrn oder Arbeitgebers, einen alkoholisierten Mitarbeiter, insbesondere einen Alkoholkranken in der „nassen Phase“, unverzüglich von der Dienstleistung zu entbinden, ergibt sich die Verpflichtung der Vorgesetzten, einen alkoholkranken Bediensteten, wenn auch nicht unter permanenter Beaufsichtigung, so doch unter ausreichender Kontrolle zu halten. Eine solche Kontrolle dient der Feststellung, ob der alkoholkranke Mitarbeiter dienstfähig und damit in der Lage ist, seine dienstlichen Pflichten zu erfüllen. Möglichem dienstlichem Fehlverhalten einschließlich der Begehung von Dienstunfällen - insbesondere mit dem Dienstwagen - wird durch solche Kontrollen vorgebeugt. Schließlich kommt es auch dem Ansehen der Post zugute, wenn sich ihre Bediensteten gegenüber den Postkunden nicht alkoholauffällig verhalten (vgl. dazu allgemein Claussen/Czapski, Alkoholmissbrauch im öffentlichen Dienst, 1992, Rn. 55 ff., 59 ff.; Lenfers, Alkohol am Arbeitsplatz, 2. Aufl. 1993, S. 81 ff., 90 ff.). Die Notwendigkeit einer wirksamen „Krankenüberwachung“ des alkoholkranken Ruhestandsbeamten war der Post auch grundsätzlich bewusst, wie das Schreiben der Einleitungsbehörde vom 26. Juni 2000 an Postvertragsarzt Dr. S. zeigt. Dort heißt es u.a.:
„Nachdem Sie in Ihren vertrauensärztlichen Gutachten eindeutig festgestellt haben, dass es sich bei dem Beamten um einen Alkoholrückfall handelt, sind wir als Arbeitgeber verpflichtet, den Beamten vom Dienst zu befreien, da wir dem Beamten keinen Arbeitsplatz bieten können, wo wir ihn einen ganzen Tag ‚unter Beobachtung’ beschäftigen können. ...
Nach geltender Rechtsprechung ist ein noch therapiefähiger, aber nicht ‚trockener’ alkoholkranker Beamter zwar nicht dauernd dienstunfähig, gleichwohl aber dienstunfähig bis zum erfolgreichen Abschluss einer Entziehungstherapie, weil er - ohne Rücksicht auf seine sonstige physisch-psychische Konstitution - grundsätzlich nicht in der Lage ist, verantwortlich Dienst zu verrichten. Er muss gegebenenfalls - wie im vorliegenden Fall - vom Dienst ferngehalten werden, weil es nicht möglich ist, den jeweiligen Grad seiner alkoholischen Beeinflussung festzustellen und ihn in dem notwendigen Umfang bei der Erfüllung seiner dienstlichen Aufgaben zu beaufsichtigen.“

25 Trotz dieser besonderen, der Dienststelle bekannten Umstände stand der Ruhestandsbeamte zur Tatzeit unter nur unzureichender Kontrolle mit der Folge, dass nicht auszuschließen ist, dass seine alkoholbedingte Dienstunfähigkeit nicht rechtzeitig erkannt wurde. Zwar hatte der damalige Gruppenführer O. Anfang des Jahres 2000 von der Stellenleitung ... die Anweisung erhalten, jeglichen Alkoholgenuss im Postamt B. zu unterbinden. Insbesondere der wegen wiederholten Alkoholkonsums im Dienst aufgefallene Ruhestandsbeamte sollte von Herrn O. auf Alkohol überprüft werden. Diese Überprüfungen, die ab Januar 2000 stattgefunden hatten, waren jedoch unzureichend und deshalb im Ergebnis auch erfolglos. Nach Auskunft von Herrn O. fanden die Kontrollen „unauffällig“ statt, so dass sie der Ruhestandsbeamte, wie dieser in der Hauptverhandlung vor dem Senat bestätigt hat, nicht einmal bemerkt hatte; den Überprüfungen fehlte damit jegliche spezialpräventive Wirkung. Da die auf Alkoholgeruch, Lallen und Wanken begrenzten Kontrollen in der Regel auch nur bei Dienstantritt erfolgten, für Überprüfungen während des Dienstes oder nach dem Dienst war der Qualitätsmanager zuständig, wurde nach Auskunft von Herrn O. beim Ruhestandsbeamten kein Alkoholkonsum festgestellt. Erst nach Vollendung des Dienstvergehens (22. Mai 2000) kam es durch den Qualitätsbeauftragten Q während der Dienstzeit am 26. Mai 2000 zu einer negativen und am 8. Juni 2000 zu einer positiven Alkoholkontrolle. Daraufhin wurde der Ruhestandsbeamte ab dem Folgetag aus seiner „Tour herausgenommen“ und damit auch verhindert, dass er (weiter) alkoholisiert mit dem Dienstwagen fährt. Am 27. Juni 2000 wurde er postvertragsärztlich als zurzeit dienstunfähig eingestuft und am 30. Juni 2000 wurde ihm unter Anordnung des Sofortvollzugs die Führung der Dienstgeschäfte verboten. Es ist nicht auszuschließen, dass eine rechtzeitige ausreichende Kontrolle des Ruhestandsbeamten dazu geführt hätte, dass dieser schon vor dem 9. Juni 2000 aus seiner „Tour herausgenommen“ und ihm wegen des Verdachts vorübergehender alkoholbedingter Dienstunfähigkeit nach postärztlicher Untersuchung die Führung der Dienstgeschäfte vorläufig untersagt worden wäre. Die Verfehlungen des Ruhestandsbeamten hätten dadurch ganz oder zumindest teilweise verhindert werden können.

26 c) Für den alkohol- und krebskranken Ruhestandsbeamten spricht ferner, dass er geständig ist, auf eine lange - über 25-jährige - und im Übrigen unbeanstandete Dienstzeit zurückblicken kann sowie weder disziplinar- noch strafrechtlich vorbelastet ist. Bei der gebotenen Gesamtwürdigung des festgestellten Dienstvergehens (vier Fälle der veruntreuenden Unterschlagung von Nachnahmegeldern in Höhe von insgesamt 1 158,54 €) und der dafür notwendigen Abwägung aller genannten be- und entlastenden Umstände hält es der Senat daher für erforderlich, aber auch ausreichend, eine Ruhegehaltskürzung zu verhängen (vgl. dazu § 5 Abs. 2 BDO).

27 3. Der an sich gebotene Ausspruch einer Ruhegehaltskürzung ist jedoch unzulässig; das Maßnahmeverbot des § 14 BDG steht dem entgegen. Dies führt zur Einstellung des Disziplinarverfahrens.

28 Der Ruhestandsbeamte ist wegen desselben Fehlverhaltens durch rechtskräftiges Strafurteil vom 18. Februar 2004 unter gleichzeitiger Bestimmung einer Gesamtgeldstrafe verwarnt worden; die Verurteilung zu der vorbehaltenen Strafe wurde zur Bewährung ausgesetzt. Für einen solchen Fall sieht § 14 Abs. 1 Nr. 1 BDG vor, dass eine Kürzung des Ruhegehalts nicht ausgesprochen werden darf. Demgegenüber darf nach der Vorgängervorschrift des § 14 Halbs. 2 BDO in einem solchen Fall eine Ruhegehaltskürzung (nur) verhängt werden, wenn dies zusätzlich erforderlich ist, um den Ruhestandsbeamten zur Erfüllung seiner Pflichten anzuhalten und das Ansehen des Beamtentums zu wahren. In Fortführung der neueren Senatsrechtsprechung, wonach das günstigere materielle Recht des Bundesdisziplinargesetzes auch für die nach der Bundesdisziplinarordnung fortzuführenden Altfälle gilt (vgl. zur Anwendung des § 14 BDG auf so genannte Altfälle grundlegend Urteil vom 17. März 2004 - BVerwG 1 D 23.03 - BVerwGE 120, 218 <221 ff.>; ferner Urteil vom 23. Februar 2005 a.a.O. <79 ff.>), kommt hier § 14 Abs. 1 Nr. 1 BDG zur Anwendung mit der Folge, dass eine Ruhegehaltskürzung nicht ausgesprochen werden darf. Trotz des festgestellten Dienstvergehens ist danach das Verfahren einzustellen (§ 87 Abs. 1 Satz 1, § 76 Abs. 3 Satz 1, § 64 Abs. 1 Nr. 7 BDO, vgl. Urteile vom 17. März 2004 a.a.O. <222> und vom 23. Februar 2005 a.a.O. <82>).

29 Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 113 f. BDO.