Beschluss vom 08.07.2004 -
BVerwG 5 B 8.04ECLI:DE:BVerwG:2004:080704B5B8.04.0

Beschluss

BVerwG 5 B 8.04

  • Bayerischer VGH München - 01.10.2003 - AZ: VGH 9 B 01.520

In der Verwaltungsstreitsache hat der 5. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 8. Juli 2004
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. S ä c k e r und
die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. F r a n k e und Prof. Dr. B e r l i t
beschlossen:

  1. Der Klägerin wird Wiedereinsetzung in den vorigen Stand in die Versäumung der Beschwerdebegründungsfrist gewährt.
  2. Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 1. Oktober 2003 wird zurückgewiesen.
  3. Der Antrag der Klägerin auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe wird abgelehnt.
  4. Die Klägerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
  5. Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 4 000 € festgesetzt.

I. Der Klägerin ist auf ihren fristgerecht gestellten Antrag hin Wiedereinsetzung in die Frist zur Begründung der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision zu gewähren, weil sie diese Frist ohne ihr Verschulden versäumt hat (§ 60 Abs. 1 VwGO). Die überlange Postlaufzeit für die fristgerecht abgesandte Beschwerdebegründung beruht zwar auf einem Adressierungsfehler (Zahlendreher bei der Postleitzahl); dieser ist der Klägerin indes hier nicht als Verschulden entgegenzuhalten.
II. Die auf Zulassung der Revision gerichtete Beschwerde muss gleichwohl erfolglos bleiben, weil sie unbegründet ist.
1. Die Revision ist nicht nach §§ 133, 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zuzulassen.
1.1 Die Beschwerde ist in Bezug auf die über die Anhörungen zu den Sprachkenntnissen gefertigten Niederschriften bzw. Vermerke (Niederschrift vom 1. Februar 1996; Aktenvermerk vom 6. Mai 1996) nicht wegen der geltend gemachten grundsätzlichen Bedeutung der Frage zuzulassen, "ob diese von der Behörde angefertigten Vermerke, die den Betroffenen meistens nur zur Kenntnisnahme zur Unterschrift vorgelegt werden, die Qualität einer öffentlichen Urkunde haben und damit die Antragsteller im Vertriebenenverfahren zwingen, zunächst den Beweis der Unrichtigkeit dieser Urkunden zu erbringen". Die Beschwerde strebt damit allein die Klärung der Frage an, ob die genannten Urkunden von dem Berufungsgericht rechtsfehlerfrei als öffentliche Urkunde im Sinne des § 418 ZPO qualifiziert worden oder dies deswegen nicht der Fall ist, weil sie - so die Beschwerde - schon nicht die formellen Kriterien des § 418 ZPO erfüllten; dies betrifft allein die einzelfallbezogene Anwendung des § 418 ZPO, bezeichnet aber keine zu dieser Norm klärungsbedürftige Rechtsfrage fallübergreifender Bedeutung.
1.2 Soweit die Beschwerde die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache unter Hinweis darauf geltend macht,
dass das Bundesverwaltungsgericht "noch nicht darüber entschieden (hat), wie sich § 100 a BVFG auf die Vermittlung der zum Zeitpunkt der Einreise der Klägerin noch geltenden Bestätigungsmerkmale Erziehung und Kultur auswirkt",
scheidet eine Revisionszulassung schon mangels Entscheidungserheblichkeit aus. Das Berufungsgericht hat - erkennbar die Entscheidung selbständig tragend - dahin erkannt, dass die Klage im Übrigen auch dann unbegründet wäre, "wenn man als maßgebliche Norm § 6 Abs. 2 BVFG i.d.F. vom 2. Juni 1993 (BGBl I S. 829) zugrunde legt", und hat hierzu u.a. ausgeführt: "Aber auch für eine Vermittlung anderer bestätigender Merkmale wie Kultur und Erziehung, die mit der deutschen Sprache als Kulturgut logisch zusammenhängen und deren Vermittlung in der Regel ohne ausreichende Beherrschung der deutschen Sprache nur noch schwerlich denkbar ist (vgl. BVerwG, U. v. 12.11.1996 - 9 C 8.96 ), bestehen keine überzeugenden Anhaltspunkte" (Urteilsabdruck S. 16 f.).
Soweit die Beschwerde hiergegen sinngemäß geltend macht, diese Bewertung sei sachlich unzutreffend, ist dies zulassungsrechtlich unerheblich und änderte nichts an der mangelnden Entscheidungserheblichkeit der aufgeworfenen Rechtsfrage.
Die in diesem Zusammenhang dann als vermeintlich grundsätzlicher Klärung bedürftig aufgeworfene weitere Frage (Beschwerdebegründung S. 10),
"unter welchen Umständen bei zumindest teilweiser Benutzung der deutschen Sprache in einem deutschen Elternhaus während der Kommandantur und danach davon ausgegangen werden kann, ob deutsche Kultur und Erziehung als Bestätigungsmerkmale vermittelt werden konnten und ob hierfür muttersprachenähnliche Sprachkenntnisse oder die Benutzung der deutschen Sprache als bevorzugte Umgangssprache notwendig sind, vermittelt werden können"
richtet sich, ohne eine klärungsfähige Rechtsfrage zu bezeichnen, in Gestalt der Grundsatzrüge gegen die einzelfallbezogene Feststellung und Würdigung des Sachverhalts und geht im Übrigen daran vorbei, dass nach der Bewertung des Berufungsgerichts erhebliche Zweifel an einer über die frühe Kindheit hinausgehenden familiären Vermittlung der deutschen Sprache bestehen.
1.3 Die Revision ist auch nicht zur grundsätzlichen Klärung "der Grenzen der Anwendbarkeit der sogenannten 'Fiktionsregelungen'" (Beschwerdeschrift S. 10) zuzu-
lassen. Das Beschwerdevorbringen genügt insoweit schon nicht den Anforderungen
des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO; mit den allgemeinen Ausführungen zu den Möglichkeiten der Sprachvermittlung in Zeiten der Kommandantur vernachlässigt sie zudem ihre eigenen, vom Berufungsgericht herangezogenen entgegenstehenden Angaben sowie das Ergebnis der Beweisaufnahme (Urteilsabdruck S. 15 f.).
2. Die Revision ist auch nicht wegen Divergenz zuzulassen (Zulassungsgrund des § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO).
2.1 Eine Abweichung im Sinne dieser Vorschrift liegt nur vor, wenn das Berufungsgericht in Anwendung derselben Vorschrift mit einem seine Entscheidung tragenden (abstrakten) Rechtssatz von einem in der Rechtsprechung der dort genannten Gerichte aufgestellten ebensolchen Rechtssatz abweicht; eine fehlerhafte Anwendung eines nicht bestrittenen Rechtssatzes im Einzelfall rechtfertigt eine Divergenzzulassung nicht (stRspr, BVerwG, Beschluss vom 5. Januar 2001 - BVerwG 4 B 57.00 - <NVwZ-RR 2001, 422>).
2.2 Die geltend gemachte Divergenz zu dem Urteil des Senats vom 4. September 2003 - BVerwG 5 C 11.03 - in Bezug auf die Feststellungen zu den konkreten Sprachkenntnissen der Klägerin genügt schon nicht den Darlegungserfordernissen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO, weil die Beschwerdebegründung keinen in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts tatsächlich aufgestellten abstrakten Rechtssatz bezeichnet, dem das Berufungsgericht einen von ihm aufgestellten abweichenden Rechtssatz entgegengesetzt hätte. Das Berufungsgericht hat vielmehr für die Anforderungen, die an die Sprachkenntnisse zum maßgeblichen Zeitpunkt zu stellen sind, die Urteile des Senats vom 4. September 2003 herangezogen (Urteilsabdruck S. 11) und lediglich in Anwendung dieser Grundsätze aufgrund des Gesamtergebnisses des Verfahrens nicht die Überzeugung gewonnen, dass die Klägerin zum Zeitpunkt der Ausreise zumindest ein einfaches Gespräch auf Deutsch führen konnte.
2.3 Das Berufungsgericht ist auch nicht dadurch von den Urteilen des Senats vom 4. September 2003 - BVerwG 5 C 11.03 , 5 C 33.02 , 5 C 40.02 und 5 C 35.02 - abgewichen, dass es bei den Anforderungen an das Sprachniveau für ein einfaches Gespräch Dialekte und unterschiedliche Entwicklungen der deutschen Sprache vernachlässigt hätte. Das Berufungsgericht hat vielmehr, ohne einen der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts entgegenstehenden Rechtssatz aufzustellen, im Zusammenhang mit den Ausführungen zur familiären Sprachvermittlung ausgeführt: "Ein weiteres Indiz dafür, dass die (geringen) Deutschkenntnisse der Klägerin nicht auf familiärer Vermittlung, sondern überwiegend auf schulischer Ausbildung beruhen, ist schließlich die unbestrittene Feststellung sowohl des BVA, Außenstelle E. als auch der Volkshochschule der Stadt Sch., wonach die Klägerin keinen Dialekt spreche" (Urteilsabdruck S. 15). Angesichts dieser tatsächlichen Feststellung zur fehlenden dialektalen Prägung der als gering bezeichneten deutschen Sprachkenntnisse der Klägerin scheidet insoweit eine Abweichung bereits im Ansatz aus (die Beschwerdebegründung gibt insoweit die Mitteilung der Volkshochschule der Stadt Sch. fehlerhaft wieder, in der es u.a. heißt: "Sie spricht keinen ausgeprägten Dialekt").
3. Die Revision ist schließlich nicht nach §§ 133, 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO wegen eines Verfahrensfehlers, insbesondere eines Verstoßes gegen die gerichtliche Amtsermittlungspflicht (§ 86 Abs. 1 VwGO), das Gebot rechtlichen Gehörs (§ 108 Abs. 2 VwGO, Art. 103 Abs. 1 GG) oder den Überzeugungsgrundsatz (§ 108 Abs. 1 VwGO), zuzulassen.
3.1. Das Beschwerdevorbringen gibt dabei keinen Anlass zur Klärung der Frage, unter welchen Voraussetzungen die von dem Berufungsgericht herangezogenen behördlichen Niederschriften bzw. Vermerke öffentliche Urkunden bilden, die einen anderen als den in §§ 415, 417 ZPO bezeichneten Inhalt haben und daher gemäß § 418 Abs. 1 ZPO den vollen Beweis der in ihnen bezeugten Tatsachen begründen, der grundsätzlich nur durch den Beweis der Unrichtigkeit widerlegt werden kann (§ 98 VwGO, § 418 Abs. 2 ZPO, s. dazu Senat, Beschluss vom 30. Juni 2004 - BVerwG 5 B 32.03 -). Das Berufungsgericht ist im rechtlichen Ansatz zutreffend und insoweit im Einklang mit der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts davon ausgegangen, dass ein von einem Behördenbediensteten aufgrund seiner eigenen Wahrnehmung über die Deutschkenntnisse eines Ausreisebewerbers gefertigter Aktenvermerk im verwaltungsgerichtlichen Verfahren verwertbar ist und er in die richterliche Überzeugungsbildung (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) einfließen kann, wobei dem Inhalt eines solchen Aktenvermerks je nach Lage der Dinge größeres Gewicht als anderen Erkenntnisquellen beigemessen werden kann (BVerwG, Beschlüsse vom 19. August 1997 - BVerwG 9 B 205.97 -; vom 30. März 1999 - BVerwG 5 B 4.99 -). Soweit das Berufungsgericht bei der Würdigung der Erkenntnisquellen zu den Sprachkenntnissen der Klägerin zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt für die bezeichneten behördlichen Dokumente weiterhin davon ausgegangen ist, dass sie zudem die Voraussetzungen einer öffentlichen Urkunde im Sinne des § 418 ZPO erfüllten und daher den vollen Beweis der darin bezeugten Tatsachen begründeten, welcher grundsätzlich nur durch den Beweis der Unrichtigkeit widerlegt werden könne, kann zunächst nicht festgestellt werden, dass das Berufungsgericht die diesen Urkunden beigemessene Beweiskraft über die in ihnen dokumentierten Tatsachen hinaus auch auf die hieraus gezogenen Schlussfolgerungen oder Bewertungen erstreckt hätte. Jedenfalls beruht das Berufungsurteil nicht auf der Einordnung der behördlichen Dokumente als öffentliche Urkunden. Entgegen dem Beschwerdevorbringen hat sich das Berufungsgericht bei der weiteren Würdigung der zum Sprachvermögen der Klägerin vorliegenden Erkenntnisquellen, mit denen es sich ersichtlich umfassend auseinander gesetzt hat, erkennbar von der Beweisregel des § 418 Abs. 1 ZPO gelöst und ist in eine umfassende Beweiswürdigung eingetreten, bei der die von der Klägerin zum Nachweis hinreichender Sprachkenntnisse herangezogenen Beweismittel selbständig und frei gewürdigt worden sind, ohne dies im Sinne des § 418 Abs. 2 ZPO auf den Beweis der Unrichtigkeit der in den behördlichen Vermerken enthaltenen Tatsachen zu beschränken. Soweit mithin die Einordnung der hier herangezogenen behördlichen Dokumente als öffentliche Urkunden rechtsfehlerhaft sein sollte, wirkte sich jedenfalls der von der Klägerin geltend gemachte Verfahrensfehler nicht aus, weil die Beweiswürdigung und die Entscheidung nicht auf einer unzutreffenden Einordnung als öffentliche Urkunde beruhen.
3.2 Das Berufungsgericht hat entgegen dem Beschwerdevorbringen die von der Klägerin zur Stützung ihres Vorbringens vorgelegten Beweismittel auch sonst ersichtlich zur Kenntnis genommen und bei der Beweiswürdigung berücksichtigt. Soweit die Klägerin den von ihr vorgelegten Beweismitteln ein anderes Gewicht beigemessen sehen will, betrifft dies die einzelfallbezogene Beweiswürdigung und weist nicht auf einen Verfahrensfehler.
4. Auch das weitere Beschwerdevorbringen rechtfertigt die Zulassung der Revision nicht; der Senat sieht insoweit von einer weiteren Begründung ab (§ 133 Abs. 5 Satz 2 Halbsatz 2 VwGO).
III. Der Klägerin kann Prozesskostenhilfe nicht bewilligt werden, weil ihre Rechtsverfolgung aus den dargelegten Gründen keine hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet (§ 166 VwGO; §§ 114, 121 Abs. 1 ZPO).
IV. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die Streitwertfestsetzung auf § 13 Abs. 1 Satz 2, § 14 GKG a.F. in Verbindung mit § 72 GKG i.d.F. des Kostenrechtsmodernisierungsgesetzes vom 5. Mai 2004 (BGBl I S. 718).