Beschluss vom 07.05.2008 -
BVerwG 9 B 35.07ECLI:DE:BVerwG:2008:070508B9B35.07.0

Beschluss

BVerwG 9 B 35.07

  • VGH Baden-Württemberg - 05.04.2007 - AZ: VGH 8 S 2090/06

In der Verwaltungsstreitsache hat der 9. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 7. Mai 2008
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Storost,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Vallendar
und die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Buchberger
beschlossen:

  1. Die Beschwerde der Beklagten gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 5. April 2007 wird zurückgewiesen.
  2. Die Beklagte trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
  3. Der Wert des Streitgegenstandes für das Beschwerdeverfahren wird auf 50 000 € festgesetzt.

Gründe

1 Die auf die Grundsatzrüge und auf die Verletzung rechtlichen Gehörs gestützte Beschwerde ist unbegründet.

2 1. Der geltend gemachte Verfahrensmangel (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) einer Verletzung der gerichtlichen Hinweis- und Aufklärungspflicht (§ 86 Abs. 3, § 104 Abs. 1 VwGO) sowie der Verletzung des rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 VwGO) führt nicht zum Erfolg der Beschwerde. Die Beklagte macht geltend, das Berufungsurteil stelle sich als „Überraschungsentscheidung“ dar. Es stütze sich „auf einen angeblichen Ermessens-‚Nichtgebrauch’ bei der Rücknahmeentscheidung seitens der Beklagten“. Im Hinblick auf die erstinstanzliche Entscheidung sowie den Verfahrensgang in der Berufungsinstanz habe die Beklagte mit einer derartigen Auffassung des Gerichts nicht rechnen können. Hätte der Verwaltungsgerichtshof vorschriftsmäßig auf die im Urteil festgehaltene Rechtsauffassung hingewiesen, hätte die Beklagte die Ermessenserwägungen entsprechend ergänzen bzw. nachholen können, was diese auch getan hätte. Gerade im Hinblick auf die eindeutige erstinstanzliche Entscheidung wäre ein dementsprechender Hinweis im Rahmen eines „Hinweisbeschlusses“ nicht nur wünschenswert, sondern angezeigt gewesen.

3 Der damit gerügte Verfahrensmangel liegt nicht vor. Von einem sog. Überraschungsurteil ist dann auszugehen, wenn das Urteil auf neue tatsächliche und/oder rechtliche Gesichtspunkte gestützt worden ist, ohne dass die Verfahrensbeteiligten damit rechnen konnten (vgl. z.B. Beschluss vom 8. August 1994 - BVerwG 6 B 87.93 - Buchholz 421.0 Prüfungswesen Nr. 335). Von einer Überraschungsentscheidung kann andererseits nicht ausgegangen werden, wenn die Gesichtspunkte, auf die das Gericht sich stützt, sich ohne Weiteres aus dem anzuwendenden Gesetz ergeben oder sich sonst den Beteiligten hätten aufdrängen müssen. Unter diesem Gesichtspunkt kann hier von einem Verstoß gegen die dem Gericht nach § 86 Abs. 3 und § 104 Abs. 1 VwGO obliegende Hinweis- und Erörterungspflicht und die Pflicht, rechtliches Gehör zu gewähren, Art. 103 Abs. 1 GG, nicht ausgegangen werden. Denn die Notwendigkeit einer Ermessensentscheidung, die auch die Interessen des Klägers berücksichtigt, wurde vom Kläger in der Berufungsbegründung vom 28. August 2006 angesprochen, worauf die Beklagte mit Schriftsatz vom 9. Oktober 2006 gerade auch in Bezug auf die Ermessenserwägungen erwidert hat. Die Beklagte musste nicht darauf hingewiesen werden, dass sich in der Ermessensbegründung des angefochtenen Bescheides und des Widerspruchsbescheides keine (hinreichenden) Erwägungen zu den Interessen des Klägers finden. Was die Beklagte letztlich rügt, ist, dass das Gericht ihr nicht vor Verkündung des Urteils seine Rechtsauffassung zur Rechtmäßigkeit der Ermessensbetätigung mitgeteilt hat. Eine derartige Verpflichtung ergibt sich aber weder aus der Aufklärungs- und Hinweispflicht noch aus der Pflicht zur Gewährung des rechtlichen Gehörs (vgl. dazu Urteil vom 10. April 1991 - BVerwG 8 C 106.89 - Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 235; Beschluss vom 30. Oktober 1987 - BVerwG 2 B 85.87 - Buchholz 310 § 104 VwGO Nr. 20; BVerfG, Beschluss vom 5. November 1986 - 1 BvR 706/85 - BVerfGE 74, 1 <6>).

4 2. Wegen der darüber hinaus von der Beschwerde geltend gemachten grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) kann die Beschwerde ebenfalls keinen Erfolg haben. Das Berufungsgericht hat seine Entscheidung selbstständig tragend sowohl darauf gestützt, dass eine Rücknahme wegen Ablaufs der Jahresfrist des § 48 Abs. 4 Satz 1 LVwVfG nicht in Betracht komme, als auch - unabhängig davon - darauf, dass die Rücknahme wegen fehlender Ermessenserwägungen rechtswidrig sei. Ist die Berufungsentscheidung auf mehrere selbstständig tragende Begründungen gestützt, so kann die Revision nur zugelassen werden, wenn hinsichtlich jeder dieser Begründungen ein Revisionszulassungsgrund vorliegt (vgl. Beschluss vom 9. Dezember 1994 - BVerwG 11 PKH 28.94 - Buchholz 310 § 132 Abs. 2 Ziff. 1 VwGO Nr. 4 S. 4 m.w.N.). Die von der Beschwerde als grundsätzlich bedeutsam aufgeworfenen Rechtsfragen beziehen sich nur auf den Ablauf der Jahresfrist des § 48 Abs. 4 Satz 1 LVwVfG. Da hinsichtlich der zweiten Begründung der Berufungsentscheidung - dem Fehlen von Ermessenserwägungen - kein Revisionszulassungsgrund vorliegt, kommt es auf die grundsätzliche Bedeutung von Fragen im Zusammenhang mit der ersten Begründung nicht an.

5 3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Festsetzung des Werts des Streitgegenstandes beruht auf § 52 Abs. 1, § 47 Abs. 1 und 3 GKG.