Beschluss vom 06.04.2004 -
BVerwG 1 B 23.04ECLI:DE:BVerwG:2004:060404B1B23.04.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 06.04.2004 - 1 B 23.04 - [ECLI:DE:BVerwG:2004:060404B1B23.04.0]

Beschluss

BVerwG 1 B 23.04

  • Hessischer VGH - 11.11.2003 - AZ: VGH 3 UE 592/01.A

In der Verwaltungsstreitsache hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 6. April 2004
durch die Vizepräsidentin des Bundesverwaltungsgerichts E c k e r t z - H ö f e r
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht H u n d und R i c h t e r
beschlossen:

  1. Der Beschluss des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs vom 11. November 2003 wird aufgehoben.
  2. Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an den Verwaltungsgerichtshof zurückverwiesen.
  3. Die Entscheidung über die Kosten in der Hauptsache bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten. Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens folgt der vorbehaltenen Kostenentscheidung in der Hauptsache.

Die Beschwerde ist mit der Rüge einer Verletzung des rechtlichen Gehörs (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO i.V.m. Art. 103 Abs. 1 GG und § 108 Abs. 2 VwGO) begründet. Die Kläger beanstanden zu Recht, dass das Berufungsgericht ihren Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs dadurch verletzt hat, dass es davon ausgegangen ist, bei ihrer Rückkehr nach Luanda sei "zu erwarten, dass die Klägerin zu 1 in der Lage sein wird, den Kontakt zu einem oder mehreren ihrer Geschwister wieder herzustellen oder sich ansonsten auch an entferntere Familienmitglieder zu wenden" (BA S. 5/6), und u.a. deshalb die Voraussetzungen eines Abschiebungshindernisses nach § 53 Abs. 6 AuslG verneint hat.
Soweit das Berufungsgericht angenommen hat, die Kläger könnten sich auch an entferntere Familienmitglieder wenden, weist die Beschwerde zutreffend darauf hin, dass sie auf eine entsprechende Aufklärungsverfügung hin vorgetragen hatten, die Klägerin zu 1 habe keine weiteren Familienmitglieder mehr in Angola. Damit setzt sich das Berufungsgericht nicht auseinander. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts ist zwar grundsätzlich davon auszugehen, dass ein Gericht das Vorbringen der Beteiligten vollständig zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen hat, auch wenn es in den Gründen der Entscheidung nicht zu allen Einzelheiten ausdrücklich Stellung nimmt. Nur wenn sich aus den besonderen Umständen des Falles deutlich ergibt, dass ein Gericht seiner Pflicht zur Kenntnisnahme und Erwägung entscheidungserheblichen Vorbringens nicht nachgekommen ist, kann im Einzelfall ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG festgestellt werden (vgl. etwa BVerfGE 96, 205 <216 f.> m.w.N.). So verhält es sich im Hinblick auf die Angaben der Kläger im Schriftsatz vom 23. September 2003 aber hier, zumal das Gericht in keiner Weise zu erkennen gibt, dass es dem Vortrag der Kläger insoweit etwa keinen Glauben schenkt.
Der Gehörsverstoß ist auch nicht deshalb unbeachtlich, weil das Berufungsgericht sich zusätzlich auf die Möglichkeit einer Kontaktaufnahme zu einem oder mehreren Geschwistern der Klägerin zu 1 stützt. Insoweit geht das Berufungsgericht selbst aufgrund des Vortrags der Kläger davon aus, von den noch sechs lebenden Geschwistern der Klägerin zu 1 sei "derzeit nicht bekannt, wo sie sich aufhalten" (BA S. 5). Dann aber durfte das Berufungsgericht zumindest nicht ohne weitere Anhörung der Kläger und ohne jegliche nachvollziehbare Begründung von der Möglichkeit einer Kontaktaufnahme (noch dazu voraussetzungsgemäß in Luanda) ausgehen.
Der Senat hat schließlich noch erwogen, ob sich der Gehörsverstoß auf entscheidungsunerhebliches Vorbringen beziehen könnte, falls das Berufungsgericht festgestellt haben sollte, dass die Grundversorgung der Bevölkerung in Luanda weitgehend gegeben ist und danach selbst für allein stehende Frauen mit Kindern keine existenzielle Bedrohung besteht, da diese sich meist in irgendeiner Weise im Klein- und Kleinsthandel betätigen könnten (BA S. 5 Absatz 2). Das Berufungsgericht hat indessen auf diese Erkenntnisse in dem jüngsten Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 15. Oktober 2003 nur "zur Information" hingewiesen und diesen (nicht in das Verfahren eingeführten) Lagebericht seiner Entscheidung ausdrücklich nicht zugrunde gelegt. Entsprechende Feststellungen aufgrund früherer Lageberichte hat es nicht getroffen. Mithin ist von der Entscheidungserheblichkeit der Feststellungen zur Möglichkeit einer familiären Kontaktaufnahme für die Kläger auszugehen.
Auf die weiteren Rügen kommt es danach nicht mehr an. Der Senat bemerkt hierzu allerdings, dass sie voraussichtlich keinen Erfolg hätten haben können. So kann ein Gehörsverstoß insbesondere nicht darin liegen, dass das Berufungsgericht - wie die Beschwerde rügt - "außer Acht lässt", dass die Klägerin zu 1 aus der Provinz Uige stammt (Beschwerdebegründung S. 4). Die Beschwerde verkennt insoweit, dass nur eine landesweit bestehende Gefahr die Zuerkennung von Abschiebungsschutz nach § 53 Abs. 6 AuslG rechtfertigen kann und nicht schon eine Gefahrenlage, die nur am Herkunfts- oder früheren Aufenthaltsort besteht. Ebenso verkennt die Beschwerde möglicherweise, dass sich aus dem Recht auf Gehör kein originärer Anspruch auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung oder einer persönlichen Anhörung der Kläger ergibt. Inwiefern das sog. vereinfachte Berufungsverfahren nach § 130 a VwGO generell oder im vorliegenden Einzelfall die Möglichkeiten der Aufklärung des Sachverhalts und des Vortrags zur persönlichen Situation der Beschwerdeführer in unzulässiger Weise behindern soll, lässt sich der Beschwerde nicht entnehmen. Soweit sich die Beschwerde im Übrigen in der Art einer Berufungsbegründung gegen die Feststellung und Würdigung des Sachverhalts und die Gefahrenprognose des Berufungsgerichts (insbesondere zu gesundheitlichen Gefahren für die Kläger bei der Rückkehr nach Angola) wendet, erschöpft sie sich in einer Kritik an der tatrichterlichen Sachverhalts- und Beweiswürdigung, ohne die behaupteten Verfahrensmängel schlüssig und den Anforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO gemäß aufzuzeigen (vgl. dazu etwa Beschluss vom 19. August 1997 - BVerwG 7 B 261.97 - Buchholz 310 § 133 n.F. VwGO Nr. 26 = NJW 1997, 3328).
Im Interesse der Verfahrensbeschleunigung macht der Senat von der Möglichkeit Gebrauch, den Rechtsstreit gemäß § 133 Abs. 6 VwGO an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.