Beschluss vom 02.10.2002 -
BVerwG 4 B 53.02ECLI:DE:BVerwG:2002:021002B4B53.02.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 02.10.2002 - 4 B 53.02 - [ECLI:DE:BVerwG:2002:021002B4B53.02.0]

Beschluss

BVerwG 4 B 53.02

  • Bayerischer VGH München - 05.06.2002 - AZ: VGH 14 B 00.488

In der Verwaltungsstreitsache hat der 4. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 2. Oktober 2002
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht
Dr. P a e t o w und die Richter am Bundesverwaltungs-
gericht Dr. L e m m e l und Dr. J a n n a s c h
beschlossen:

  1. Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 5. Juni 2002 wird zurückgewiesen.
  2. Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen, die dieser selbst trägt.
  3. Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 4 090 € festgesetzt.

I


Der Kläger wendet sich gegen eine dem Beigeladenen erteilte Baugenehmigung, mit der diesem der Anbau einer Garage und eines Treppenhauses sowie der Ausbau des Dachgeschosses eines etwa 100 Jahre alten Gebäudes auf dem Nachbargrundstück gestattet worden ist. Das Verwaltungsgericht hat über die Klage mündlich verhandelt und sie sodann abgewiesen. Nach Einlegung der Berufung hat die Beklagte einen Ergänzungsbescheid erlassen, mit dem eine Abweichung von abstandsrechtlichen Vorschriften zugelassen worden ist. Der Kläger hat diesen Bescheid in das laufende Verfahren miteinbezogen. Sodann wurden die Beteiligten mit Verfügung vom 19. November 2001 auf die Möglichkeit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung nach § 130 a VwGO hingewiesen. In den folgenden Monaten wechselten die Beteiligten Schriftsätze, mit denen sie insbesondere ihre unterschiedliche Beurteilung der materiellen Rechtslage vortrugen. Mit Beschluss vom 5. Juni 2002 hat das Berufungsgericht die Berufung zurückgewiesen.
Mit seiner Beschwerde wendet sich der Kläger dagegen, dass das Berufungsgericht die Revision nicht zugelassen hat.

II


Die Beschwerde bleibt erfolglos. Aus dem Beschwerdevorbringen ergibt sich kein Grund, der die Zulassung der Revision rechtfertigen könnte.
1. Die Beschwerde macht geltend, das Berufungsgericht habe nicht ohne eine zweite Anhörungsmitteilung gemäß § 130 a VwGO ohne mündliche Verhandlung entscheiden dürfen, nachdem die Parteien nach der ersten Anhörungsmitteilung wesentliche neue Gesichtspunkte vorgetragen hätten. Diese Rüge ist unbegründet. Zwar ist es nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts erforderlich, dass das Berufungsgericht einen erneuten Hinweis gibt, wenn es an der Durchführung des vereinfachten Verfahrens auch angesichts von Beweisanträgen, die erst nach der ersten Anhörungsmitteilung gestellt worden sind, festhalten will (BVerwG, Beschluss vom 10. Dezember 1997 - BVerwG 4 B 204.97 - <insoweit offenbar nur in juris veröffentlicht>, unter Hinweis auf den Beschluss vom 10. April 1992 - BVerwG 9 B 142.91 - Buchholz 310 § 130 a VwGO Nr. 5). Denn wenn das Berufungsgericht den Beweisanträgen nicht nachgehen will, muss es den Beteiligten Gelegenheit geben, sich hierauf einzustellen und ihre Sachargumente unter Berücksichtigung der in der erneuten Anhörung zum Ausdruck kommenden Ablehnung ihrer Beweisanträge zu vertiefen und gegebenenfalls die Gründe darzutun, aus denen sie eine mündliche Verhandlung dennoch für sachdienlich halten. Je nach Lage des Einzelfalls mag auch, wenn kein Beweisantrag gestellt, aber etwas sachlich wesentlich Neues vorgetragen wird, die Durchführung einer mündlichen Verhandlung geboten oder - zumindest - eine erneute Anhörung erforderlich sein. Veranlassung zu einer erneuten Anhörung besteht aber jedenfalls dann nicht, wenn sich der Berufungskläger auf die Anhörungsmitteilung hin gar nicht gegen die in Aussicht gestellte Möglichkeit, ohne mündliche Verhandlung zu entscheiden, gewandt hat (BVerwG, Beschluss vom 28. August 1995 - BVerwG 3 B 7.95 - NVwZ-RR 1996, 477). So ist es hier: Die Beschwerde macht selbst nicht geltend, dass der Kläger dem angekündigten Verfahren widersprochen habe. Im Übrigen legt die Beschwerde auch nicht hinreichend dar, dass der Kläger nach der Anhörungsmitteilung wesentliche neue Gesichtspunkte vorgetragen hat: Allein aus dem Umstand, dass das Berufungsgericht die Schriftsätze des Klägers den übrigen Beteiligten zur Kenntnisnahme und eventuellen Stellungnahme übersandt hat, ergibt sich dies nicht.
2. Entgegen dem Beschwerdevortrag ergab sich die Notwendigkeit einer mündlichen Verhandlung im Berufungsverfahren auch nicht aus Art. 6 EMRK, will sich durch die Einbeziehung des Ergänzungsbescheids ein neuer Streit- und Sachstand ergeben habe. Dabei kann offen bleiben, ob Art. 6 EMRK auf den vorliegenden Nachbarstreit überhaupt anwendbar ist. Auch wenn man dies grundsätzlich annehmen wollte, würde es ausreichen, dass im ersten Rechtszug eine mündliche Verhandlung durchgeführt worden ist. Mit der Erteilung der Befreiung hat die Beklagte rechtlichen Bedenken Rechnung getragen, ohne dass sich der Lebenssachverhalt, um den es schon im ersten Rechtszug ging, in irgendeiner Weise geändert hat.
3. Die Revision ist auch nicht zur Klärung der Frage zuzulassen, ob Art. 6 Abs. 1 EMRK genüge getan ist, wenn im erstinstanzlichen verwaltungsgerichtlichen Verfahren, nicht aber im Berufungsverfahren die Möglichkeit der mündlichen Verhandlung bestand, obwohl sich im Berufungsverfahren die Sach- und Rechtslage geändert hat. Denn in dieser Allgemeinheit kommt es auf diese Frage im vorliegenden Verfahren nicht an. Entscheidungserheblich ist nicht, ob eine Änderung der Sach- und Rechtslage generell eine erneute mündliche Verhandlung erfordert, sondern allein, ob eine mündliche Verhandlung auch im Berufungsverfahren nötig ist, wenn es nach wie vor um ein und dasselbe Vorhaben geht, das bereits Gegenstand der mündlichen Verhandlung im ersten Rechtszug war und die "Änderung der Sach- und Rechtslage" allein darin besteht, dass für das durch eine Baugenehmigung zugelassene Bauvorhaben zusätzlich eine Befreiung erteilt wird. Die so formulierte Frage hat aber keine grundsätzliche Bedeutung. Ob sie sich überhaupt stellt, hängt vom jeweils geltenden Bauordnungsrecht und von den weiteren Umständen des Einzelfalls ab. Erkenntnisse, die über den vorliegenden Rechtsstreit hinausführen könnten, sind nicht zu erwarten.
4. Die geltend gemachte Abweichung von dem Urteil des Bundesverwaltungsgericht vom 23. Januar 1981 - BVerwG 4 C 83.77 - (NJW 1981, 1224) liegt nicht vor. Denn einen Rechtssatz des Inhalts, "dass sich der Bestandsschutz auch auf eine neue Nutzung erstreckt, wenn die alte Nutzung nicht möglich ist", enthält das Berufungsurteil nicht. Vielmehr führt das Berufungsgericht aus, dass die beabsichtigte Wohnnutzung gemäß § 34 Abs. 1 BauGB planungsrechtlich zulässig sei. Mit dem "bestandskräftig genehmigten Gebäudebestand" wird vielmehr die Abweichung von abstandsrechtlichen Vorschriften gerechtfertigt. Zu abstandsrechtlichen Fragen, die übrigens zum irrevisiblen Landesrecht gehören, hat sich das Bundesverwaltungsgericht in der genannten Entscheidung nicht geäußert.
5. Soweit die Beschwerde eine Abweichung von dem Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 10. Dezember 1997 - BVerwG 4 B 204.97 - (BRS 59 Nr. 188 - die von der Beschwerde angesprochene Passage ist in NVwZ 1998, 395 nicht abgedruckt) geltend macht, ist sie unzulässig, weil sie nicht den Anforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO an die Darlegung des geltend gemachten Zulassungsgrundes genügt. Wird eine Abweichung geltend gemacht, so muss die Beschwerde nämlich - unter anderem - einen abstrakten Rechtssatz aus der höchstrichterlichen Rechtsprechung anführen, von dem die Berufungsentscheidung nach der Auffassung der Beschwerde abweicht. Daran fehlt es hier. Zwar trägt die Beschwerde vor, der zitierte Beschluss enthalte den Rechtssatz, "Dass Abstandsflächenregelungen auch dem Schutz der Nachbargrundstücke vor Einsicht Dritter dienen, ist nicht fern liegend." Dieser Satz kann jedoch niemals Grundlage für eine Abweichung sein. Denn ein Zulassungsgrund nach § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO kann immer nur vorliegen, wenn das angegriffene Urteil von einem entscheidungstragenden Rechtssatz des revisiblen Rechts in einer höchstrichterlichen Entscheidung abweicht. Der in der Beschwerde genannte Satz kann aber schon bei isolierter Betrachtung kein entscheidungstragender Rechtssatz sein. In dem Beschluss vom 10. Dezember 1997 dient er zudem - im Rahmen der Behandlung der Rüge einer Verletzung des rechtlichen Gehörs - nur zur Begründung, weshalb eine bestimmte Rechtsfrage für alle Beteiligten als möglicherweise entscheidungserheblich klar erkennbar war. Und er gehört schließlich auch nicht zum revisiblen Recht.
6. Unzulässig ist auch die Rüge, das Berufungsurteil weiche von dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 26. März 1976 - BVerwG 4 C 7.74 - (BVerwGE 50, 282) ab. Dabei kann offen bleiben, ob die Beschwerde einen den Darlegungsanforderungen genügenden Rechtsatz aus dieser Entscheidung darlegt. Denn zumindest arbeitet die Beschwerde keinen abstrakten Rechtssatz aus dem Berufungsurteil heraus, der mit der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts im Widerstreit stehen könnte.
7. An der Nichterfüllung der Darlegungsanforderungen muss schließlich auch die letzte Abweichensrüge scheitern. Die Beschwerde entnimmt den Urteilen des Bundesverwaltungsgerichts vom 22. Mai 1987 - BVerwG 4 C 17 - 19.84 - (BVerwGE 77, 295) und vom 15. Februar 1990 - BVerwG 4 C 47.89 - (BVerwGE 84, 361), dass eine Enteignung nur durch hoheitlichen Rechtsakt, nie durch einen Realakt vorgenommen werden könne. Sie macht geltend, das Berufungsurteil weiche von diesem Rechtssatz ab, weil in dem Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 25. Mai 2000 (Az.: 4 ZS 00.522 ), auf den das Berufungsurteil Bezug nimmt, ausgeführt werde, dass der durch das Grundstück des Klägers verlaufende Abwasserkanal aufgrund einer konkludenten Widmung Teil der Abwasseranlage der Beklagten geworden sei; eine konkludente Widmung könne aber nur erfolgen, wenn die Sache in der Sachherrschaft des öffentlichen Rechtsträgers sei. Eine Abweichung im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO ist damit nicht dargetan. Aus dem Beschwerdevortrag ergibt sich nicht, dass das Berufungsgericht den Rechtssatz, dass eine Enteignung nicht durch Realakt vorgenommen werden könne, in Zweifel gezogen habe. Ihm kann allenfalls entnommen werden, dass das Berufungsgericht diesen Rechtssatz nach der Rechtsauffassung der Beschwerde falsch angewendet habe; darin würde keine Abweichung liegen. Es liegt allerdings näher, den Beschwerdevortrag so zu verstehen, dass dem Berufungsgericht nicht bei der Beurteilung der Enteignungsfrage, sondern bei der Beurteilung der von ihm angenommenen Widmung der Abwasseranlage ein Fehler unterlaufen sei; dann wäre eine Abweichung erst recht zu verneinen.
8. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2, § 162 Abs. 3 VwGO. Es entsprich nicht der Billigkeit, dem Kläger auch die außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen im Beschwerdeverfahren aufzuerlegen. Zwar hat er ausdrücklich die Zurückweisung der Beschwerde beantragt. Das allein genügt jedoch nicht. Der Antrag war nicht näher begründet und deshalb nicht geeignet, die gerichtliche Entscheidung zu fördern. Vor allem aber bestand für den Beigeladenen kein Anlass, sich an dem auf Zulassung der Revision gerichteten Beschwerdeverfahren zu beteiligen, weil ihm das Bundesverwaltungsgericht noch nicht Gelegenheit gegeben hatte, sich zur Frage der Zulassung der Revision zu äußern (stRspr, vgl. z.B. Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 7. Juni 1995 - BVerwG 4 B 126.95 - Buchholz 310 § 162 VwGO Nr. 30).
Den Wert des Streitgegenstandes setzt der Senat gemäß § 14 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3, § 13 Abs. 1 Satz 1 GKG fest.