Beschluss vom 02.07.2009 -
BVerwG 20 F 4.09ECLI:DE:BVerwG:2009:020709B20F4.09.0

Beschluss

BVerwG 20 F 4.09

  • Niedersächsisches OVG - 30.04.2009 - AZ: OVG 14 PS 1/09

In der Verwaltungsstreitsache hat der Fachsenat des Bundesverwaltungsgerichts für Entscheidungen
nach § 99 Abs. 2 VwGO
am 2. Juli 2009
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Bardenhewer,
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Bumke und
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Buchheister
beschlossen:

  1. Die Beschwerde des Klägers gegen den Beschluss des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 30. April 2009 wird
  2. zurückgewiesen.
  3. Der Kläger trägt die Kosten des Zwischenverfahrens.
  4. Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Zwischenverfahren auf 5 000 € festgesetzt.

Gründe

I

1 Der Kläger ist Angeklagter eines Strafprozesses. Im Strafverfahren vor dem Landgericht Hannover, das mit einem Freispruch endete, hatte das Niedersächsische Ministerium für Inneres und Sport mit Schreiben vom 20. März 2007 und 20. April 2007 unter Berufung auf § 96 StPO Sperrerklärungen abgegeben und erklärt, dass ein Informant der Polizeibehörde dem Gericht nicht als Zeuge benannt werden könne und dass bestimmte Aktenteile der in Verwahrung der Polizeidirektion H. befindlichen Informantenakte (Beiakte E) nicht vorgelegt werden könnten. Nach Aufhebung des Urteils des Landgerichts Hannover und Zurückverweisung durch den Bundesgerichtshof ist das Verfahren nunmehr am Landgericht Hildesheim anhängig.

2 Mit der diesem Zwischenverfahren zugrundeliegenden, gegen das Niedersächsische Ministerium für Inneres, Sport und Integration gerichteten Klage begehrt der Kläger die Feststellung, dass die Weigerung des Beklagten gegenüber dem Landgericht Hannover, Auskunft über die Identität einer V-Person zu erteilen, rechtswidrig war; er erstrebt die vollständige Vorlage der streitigen Informantenakte, um die V-Person als Zeuge in dem Strafverfahren zu laden.

3 Mit Beschluss vom 20. Januar 2009 forderte das Gericht der Hauptsache den Beklagten zur Vorlage der im Tenor des Beschlusses aufgeführten Aktenteile auf. Daraufhin gab der mit der obersten Aufsichtsbehörde i.S.d. § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO identische Beklagte mit Schreiben vom 16. Februar 2009 unter Bezugnahme auf die Schreiben vom 20. März 2007 und 20. April 2007 eine Sperrerklärung gemäß § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO ab. Mit Beschluss vom 30. April 2009 hat der Fachsenat des Oberverwaltungsgerichts festgestellt, dass die Weigerung des Beklagten rechtmäßig ist. Hiergegen richtet sich die Beschwerde des Klägers.

II

4 Die Beschwerde des Klägers ist unbegründet. Zu Recht hat der Fachsenat des Oberverwaltungsgerichts entschieden, dass die Weigerung des Beklagten, die begehrten Aktenseiten vorzulegen, rechtmäßig ist.

5 1. Zutreffend ist der Fachsenat des Oberverwaltungsgerichts davon ausgegangen, dass das Zwischenverfahren statthaft ist, auch wenn Gegenstand einer verwaltungsgerichtlichen Klage die Rechtmäßigkeit einer gemäß § 96 StPO abgegebenen Sperrerklärung ist. Zwar sieht die Strafprozessordnung kein derartiges Zwischenverfahren vor. Dies ist in aller Regel wegen des Grundsatzes "in dubio pro reo" auch nicht erforderlich. Denn aufgrund einer Sperrerklärung nach § 96 StPO zurückgehaltene Unterlagen sind als Beweismittel zu Lasten des Angeklagten ungeeignet, so dass die Sperrerklärung nicht zum Nachteil des Angeklagten führen kann. Soll der Inhalt eines von der Behörde zurückgehaltenen Dokuments allerdings der Verteidigung des Angeklagten dienen, so kann sich die Sperrerklärung für diesen nachteilig auswirken. In diesem Fall steht dem Angeklagten die Klage vor dem Verwaltungsgericht mit dem Ziel zur Seite, die Sperrwirkung zu beseitigen und die Aktenvorlage zu erzwingen (Beschluss vom 28. März 2006 -BVerwG 20 F 1.05 - Buchholz 310 § 99 VwGO Nr. 40 Rn. 8).

6 2. Der Fachsenat für das Verfahren nach § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO ist grundsätzlich auf die Prüfung beschränkt, ob die Verweigerung der Aktenvorlage rechtmäßig ist (Beschluss vom 29. Juli 2002 - BVerwG 2 AV 1.02 - BVerwGE 117, 8 <10>). Hat das Gericht der Hauptsache - wie hier - die Entscheidungserheblichkeit in einem Beschluss geprüft und bejaht, ist der Fachsenat grundsätzlich an dessen Rechtsauffassung gebunden (Beschlüsse vom 28. März 2006 a.a.O. Rn. 6; vom 21. Februar 2008 - BVerwG 20 F 2.07 - BVerwGE 130, 236 Rn. 13 und vom 5. Februar 2009 - BVerwG 20 F 3.08 - juris Rn.4). Eine andere Beurteilung durch den Fachsenat kommt nur dann in Betracht, wenn die Rechtsauffassung des Gerichts der Hauptsache offensichtlich fehlerhaft ist. Die Grenze zur Offensichtlichkeit ist erst dann überschritten, wenn sich die Rechtsauffassung als nicht vertretbar erweist (Beschluss vom 21. Februar 2008 a.a.O. Rn. 14). Gemessen an diesem Maßstab hatte der Fachsenat des Oberverwaltungsgerichts keinen Anlass, die Frage der Entscheidungserheblichkeit mit Blick auf die von ihm zitierte Rechtsprechung näher zu prüfen, zumal der Beklagte die Sperrerklärungen vom 20. März 2007 und 20. April 2007 auf ein konkretes Ersuchen des zu diesem Zeitpunkt zuständigen Landgerichts Hannover abgegeben hat (vgl. dazu auch Urteil vom 19. August 1986 - BVerwG 1 C 7.85 - BVerwGE 75, 1, 7 ff.; Beschluss vom 28. März 2006 a.a.O. Rn. 8).

7 3. Grundsätzlich setzt die Entscheidung über die Verweigerung der Aktenvorlage (Sperrerklärung) bei Geheimhaltungsbedarf eine Ermessensausübung gemäß § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO voraus. Der Fachsenat und damit auch das Beschwerdegericht haben nur zu überprüfen, ob die Entscheidung den an die Ermessensausübung gemäß § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO gestellten Anforderungen genügt. Grundlage der Ermessensausübung ist die Einschätzung, dass Gründe vorliegen, aus denen sich die Geheimhaltungsbedürftigkeit der streitigen Unterlagen ergibt. Fehlt es am Geheimhaltungsbedarf, erweist sich die Sperrerklärung bereits aus diesem Grund als rechtswidrig.

8 3.1 Bereitet das Bekanntwerden des Inhalts zurückgehaltener Dokumente dem Wohl des Bundes oder eines Landes Nachteile, ist ihre Geheimhaltung ein legitimes Anliegen des Gemeinwohls (BVerfG, Beschluss vom 27. Oktober 1999 - 1 BvR 385/90 - BVerfGE 101, 106 <127 f>). Ein Nachteil in diesem Sinne ist dann gegeben, wenn und soweit die Bekanntgabe des Akteninhalts die künftige Erfüllung der Aufgaben der Sicherheitsbehörden einschließlich deren Zusammenarbeit mit anderen Behörden erschweren oder Leben, Gesundheit oder Freiheit von Personen gefährden würde (Beschlüsse vom 25. Februar 2008 - BVerwG 20 F 43.07 - juris Rn. 10 und vom 5. November 2008 - BVerwG 20 F 6.08 - juris Rn. 4). Zu Recht hat der Fachsenat des Oberverwaltungsgerichts diese Grundsätze auf die Tätigkeit der Strafverfolgungsbehörden übertragen und die Geheimhaltungsbedürftigkeit von Auskünften und Angaben von und über Personen, denen im Zuge strafrechtlicher Ermittlungen Vertraulichkeit zugesichert worden ist, bejaht, wenn bei Offenlegung der Akten Leib und Leben oder die Freiheit der V-Personen ernstlich gefährdet wäre. Ob eine solche ernsthafte Gefahr zu besorgen ist, beurteilt sich nach den konkreten Umständen des Einzelfalls. Es genügt nicht, allgemein auf die Bedeutung des Quellenschutzes als Voraussetzung für eine effektive Erfüllung der Aufgaben der Strafverfolgungsbehörden zu verweisen. Daher ist nicht erst im Rahmen der Ermessensausübung, sondern bereits bei der Prüfung, ob die begehrte Information geheimhaltungsbedürftig ist, der Sachverhalt umfassend zu würdigen. Wie das Bundesverwaltungsgericht im Fall der Verweigerung der Aktenvorlage nach § 96 StPO ausgeführt hat, sind insbesondere die Schwere der Straftat, das Ausmaß der dem Beschuldigten drohenden Nachteile und das Gewicht der einer Aktenvorlage entgegenstehenden Umstände zu berücksichtigen (Urteil vom 19. August 1986 a.a.O. S. 9). Auch das hat der Fachsenat des Oberverwaltungsgerichts erkannt und zutreffend darauf hingewiesen, dass gegebenenfalls auch zu prüfen ist, ob nicht bereits bestimmte strafverfahrensrechtliche Vorkehrungen zum Schutz der betroffenen V-Person ausreichen.

9 3.2 Die Sperrerklärung des Beklagten enthält zur Begründung des Geheimhaltungsinteresses i.S.d. § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO bezogen auf den konkreten Einzelfall aussagekräftige und nachvollziehbar begründete Erläuterungen zur Bedeutung der zurückgehaltenen Erkenntnisse und der Notwendigkeit des Quellenschutzes. Die Durchsicht der Aktenstücke belegt die Geheimhaltungsgründe. Die Einschätzung des Fachsenats des Oberverwaltungsgerichts, dass bei Offenlegung der Aktenseiten eine konkrete Gefahr für Leib und Leben der V-Person bestünde, ist nicht zu beanstanden. Der Senat teilt diese Einschätzung. Soweit der Kläger einwendet, die in Rede stehende Informationsquelle sei „lediglich ein phantasievolles, aber vor allem ein virtuelles Arbeitsprodukt des israelischen Geheimdienstes" (Beschwerdebegründung S. 2), meint, die Polizei habe „getrickst" (Beschwerdebegründung S. 5) und geltend macht, die Beiakte E sei nicht authentisch (Beschwerdebegründung S. 24), ist - unter Berücksichtigung der Verpflichtung zur Geheimhaltung gemäß § 99 Abs. 2 Satz 10 Halbs. 2 VwGO einerseits und der Pflicht zur Begründung gemäß § 122 Abs. 2 Satz 1 VwGO andererseits - festzuhalten, dass der Senat keinen Anlass hat, an der Existenz der in den vorgelegten Aktenseiten der Beiakte E genannten und identifizierbaren V-Person zu zweifeln. Ebenso wenig handelt es sich - wie der Kläger des Weiteren mit ausführlicher Begründung geltend macht - um „eine selbst inszenierte Lebensgefahr für die vermeintliche Informationsquelle" (Beschwerdebegründung S. 23). Die vom Kläger vermisste „berechtigte Annahme, dass eine konkrete Gefährdung zu erwarten steht" (Beschwerdebegründung S. 24) erschließt sich nachvollziehbar aus den vorgelegten Aktenseiten. Aus den Unterlagen ergibt sich des Weiteren, dass auch sorgfältig geprüft worden ist, ob nicht gegebenenfalls bestimmte strafverfahrensrechtliche Vorkehrungen zum Schutz der V-Person ausreichen würden. Die Gründe, aus denen auf eine solche, unter anderem vom Landgericht Hannover im Schreiben vom 12. März 2007 mit Blick auf § 247 a StPO angeregte Vorgehensweise verzichtet worden ist und die zusammengefasst auch in der Erklärung gemäß § 96 StPO vom 20. März 2007 angeführt sind, werden in den vorgelegten Unterlagen nachvollziehbar unter Würdigung der konkreten Umstände des Einzelfalls dargelegt.

10 4. Der Beklagte hat beachtet, dass es nicht genügt, lediglich auf die Gründe der Geheimhaltung zu verweisen. Wie sich aus der Sperrerklärung vom 16. Februar 2009 ergibt, hat er das ihm durch § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO eröffnete Ermessen erkannt und geprüft, ob überwiegende Interessen an der unbeschränkten Offenlegung der Aktenseiten trotz ihres geheimhaltungsbedürftigen Inhalts gegeben sind. Dass er dabei auch auf seine Erklärungen vom 20. März 2007 und 20. April 2007 gegenüber dem Landgericht verwiesen hat, ist nicht zu beanstanden. Mit der Bezugnahme wird lediglich eine Wiederholung der Umstände, aus denen sich der Geheimhaltungsbedarf ergibt, vermieden. Der Beklagte hat das besondere prozessuale Interesse des Klägers an den Aktenseiten erkannt, das sich aus seinem grundrechtlich geschützten Anspruch auf ein faires Strafverfahren ergibt, und hat dieses Interesse mit Gründen des Geheimnisschutzes abgewogen. Er hat auch geprüft, ob es neue Gesichtspunkte gibt, die bei der Ermessensausübung einzustellen gewesen wären. Soweit die Beschwerde zum Hintergrund der Anklage vorträgt, ergeben sich daraus keine Anhaltspunkte dafür, dass sich die Sachlage zum Zeitpunkt der Sperrerklärung vom 16. Februar 2009 in Bezug auf den Geheimnisschutz geändert hätte. Dass der Senat von der Existenz der V-Person ausgeht, ist bereits dargelegt worden. Die Ausführungen des Klägers beziehen sich denn auch nicht auf die Ermessensausübung nach § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO, sondern betreffen Fragen, die im Strafprozess zu behandeln sind. Bereits aus diesem Grund war dem hilfsweise mit der Beschwerde gestellten Antrag auf Beiziehung der „Akten der Staatsanwaltschaft Potsdam pp" (Beschwerdebegründung S. 25) nicht zu folgen. Abgesehen davon übersieht der Kläger, dass das Zwischenverfahren eine Beweiserhebung im Sinne von § 98 VwGO in Verbindung mit den dort genannten Bestimmungen der Zivilprozessordnung in der Regel nicht zulässt (Beschluss vom 21. Februar 2008 a.a.O. Rn. 33). Bei seinen Ermessenserwägungen hat der Beklagte zudem - wie auch der Fachsenat des Oberverwaltungsgerichts dargelegt hat - geprüft, ob es unter Beachtung des gebotenen Schutzes für die V-Person genügen könnte, Aktenseiten mit Schwärzungen vorzulegen. Auch hier bestätigt die Durchsicht der Aktenseiten die Einschätzung des Beklagten, dass teilweise Schwärzungen die Gefahr der Identifikation der gefährdeten V-Person nicht bannen würden.

11 Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, die Festsetzung des Werts des Streitgegenstandes beruht auf § 52 Abs. 2 GKG.