Beschluss vom 12.07.2018 -
BVerwG 1 B 32.18ECLI:DE:BVerwG:2018:120718B1B32.18.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Beschluss vom 12.07.2018 - 1 B 32.18 - [ECLI:DE:BVerwG:2018:120718B1B32.18.0]

Beschluss

BVerwG 1 B 32.18

  • VG Osnabrück - 03.02.2015 - AZ: VG 5 A 196/14
  • OVG Lüneburg - 08.02.2018 - AZ: OVG 13 LB 43/17

In der Verwaltungsstreitsache hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 12. Juli 2018
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Berlit und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Dörig und Dr. Fleuß
beschlossen:

  1. Der Antrag der Kläger auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung ihres Prozessbevollmächtigten wird abgelehnt.
  2. Die Beschwerde der Kläger gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 8. Februar 2018 wird verworfen.
  3. Die Kläger tragen die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu je einem Sechstel.
  4. Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 30 000 € festgesetzt.

Gründe

1 1. Der Antrag der Kläger auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung ihres Prozessbevollmächtigten für das Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht wird abgelehnt, weil die Rechtsverfolgung - wie sich aus den nachstehenden Gründen ergibt - keine hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet (§ 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1 und § 121 Abs. 1 ZPO).

2 2. Die auf die Zulassungsgründe der grundsätzlichen Bedeutung (a), der Divergenz (b) und eines Verfahrensmangels (c) gestützte Beschwerde hat keinen Erfolg.

3 a) Die Revision ist nicht wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zuzulassen.

4 Grundsätzliche Bedeutung im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO kommt einer Rechtssache nur zu, wenn sie eine für die erstrebte Revisionsentscheidung erhebliche Frage des revisiblen Rechts aufwirft, die im Interesse der Einheit und Fortbildung des Rechts revisionsgerichtlicher Klärung bedarf. Das Darlegungserfordernis des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO setzt insoweit die Formulierung einer bestimmten, höchstrichterlich noch ungeklärten und für die Revisionsentscheidung erheblichen Rechtsfrage des revisiblen Rechts und außerdem die Angabe voraus, worin die allgemeine, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung besteht. Die Beschwerde muss erläutern, dass und inwiefern die Revisionsentscheidung zur Klärung einer bisher revisionsgerichtlich nicht beantworteten fallübergreifenden Rechtsfrage des revisiblen Rechts führen kann (vgl. BVerwG, Beschluss vom 19. August 1997 - 7 B 261.97 - Buchholz 310 § 133 <n.F.> VwGO Nr. 26 S. 14). Die Begründungspflicht verlangt zudem, dass sich die Beschwerde mit den Erwägungen des angefochtenen Urteils, auf die sich die aufgeworfene Frage von angeblich grundsätzlicher Bedeutung bezieht, substantiiert auseinandersetzt. Sie muss im Einzelnen aufzeigen, aus welchen Gründen der Rechtsauffassung, die dieser Frage zugrunde liegt, zu folgen ist (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 10. August 2015 - 5 B 48.15 - juris Rn. 3, vom 17. November 2015 - 5 B 17.15 - ZOV 2016, 160 Rn. 21 und vom 26. September 2016 - 5 B 1.16 D - juris Rn. 26, jeweils m.w.N.). Diesen Anforderungen wird die Beschwerde nicht gerecht.

5 aa) Rechtsgrundsätzlichen Klärungsbedarf sieht die Beschwerde in Hinblick auf die Frage
"Gilt § 25b AufenthG nur für Volljährige?"
(S. 1 f. der Beschwerdebegründung).

6 Das Oberverwaltungsgericht hat die Rechtsauffassung, die Aufenthaltserlaubnis nach § 25b Abs. 1 AufenthG dürfe nur volljährigen Ausländern erteilt werden, unter anderem auf die Erteilungsvoraussetzungen des § 25b Abs. 1 AufenthG, die Möglichkeit eines abgeleiteten Aufenthaltsrechts für Ehegatten, Lebenspartner und minderjährige Kinder nach § 25b Abs. 4 AufenthG und den Anwendungsbereich der Aufenthaltsgewährung bei gut integrierten Jugendlichen und Heranwachsenden nach § 25a Abs. 1 AufenthG gestützt. Das Beschwerdevorbringen setzt sich mit seiner dem entgegenstehenden Rechtsbehauptung mit den Erwägungen des Berufungsgerichts nicht auseinander und legt schon nicht in einer den Anforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO genügenden Weise dar, aus welchen Gründen die aufgeworfene Rechtsfrage klärungsbedürftig sei.

7 bb) Die Revision ist auch nicht im Hinblick auf die als rechtsgrundsätzlich aufgeworfene Frage
"Wann liegt ein atypischer Regelfall vor, in dem von einer einzelnen Voraussetzung des § 25b Abs. 1 AufenthG abgesehen werden kann?"
(S. 3 der Beschwerdebegründung)
zuzulassen.

8 Das Oberverwaltungsgericht geht davon aus, dass von dem Erfordernis einer nachhaltigen Integration in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland im Sinne des § 25b Abs. 1 Satz 1 AufenthG ausnahmsweise auch dann auszugehen sein könne, wenn eine Gesamtschau aller Umstände des konkreten Einzelfalls die Annahme rechtfertige, der Ausländer habe trotz Nichterfüllung der vom Gesetzgeber in § 25b Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 bis 5 AufenthG geforderten Integrationsleistungen sonstige besondere Integrationsleistungen erbracht, die von vergleichbarem Gewicht und vergleichbarer Nachhaltigkeit wie die in § 25b Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 bis 5 AufenthG genannten Integrationsleistungen seien (UA S. 15 f.).

9 Das Beschwerdevorbringen legt auch hier schon nicht dar, aus welchen Gründen sich insoweit eine revisionsgerichtlich klärungsbedürftige Rechtsfrage fallübergreifender Bedeutung ergibt. Der Zulassung steht hier tragend auch entgegen, dass sich die Beschwerde der Sache nach gegen die einzelfallbezogene Würdigung wendet, es läge kein "atypischer Regelfall" vor.

10 cc) Die Revision ist auch nicht wegen der Frage zuzulassen,
"Liegt eine Ermessenreduzierung auf Null für das Absehen von der Passpflicht gem. § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG vor, wenn
- aa) die Passpflicht für ihren verwaltungstechnischen Sinn, im Extremfall die Durchführbarkeit einer Abschiebung zu gewährleisten, gar nicht mehr erforderlich ist oder
- bb) wenn der Heimatstaat bei der Ausstellung von Pässen gegen internationales Recht verstößt und damit die Ausstellung von Pässen übermäßig erschwert oder
- cc) wenn die Erfüllung der Passpflicht auch durch mildere Mittel gesichert werden kann, wie etwa ein befristetes Absehen von der Passpflicht verbunden mit dem Hinweis dass die Bemühungen um Pässe bei der nächsten Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis nachzuweisen sind?"
(S. 4 der Beschwerdebegründung).

11 Die von der Beschwerde formulierte Frage bezeichnet schon keine klärungsfähige Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung zu der in § 5 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG statuierten Pflicht zum Besitz eines gültigen Nationalpasses, die eine weitere, selbstständig neben dem Erfordernis der Klärung der Identität und der Staatsangehörigkeit des Ausländers stehende Regelerteilungsvoraussetzung ist (vgl. BVerwG, Beschluss vom 17. Juni 2013 - 10 B 1.13 - Buchholz 402.242 § 5 AufenthG Nr. 15). Sie vermischt vom Berufungsgericht tatrichterliche so gerade nicht festgestellte Sachverhaltselemente mit der Rechtsfolge einer Ermessensreduktion auf Null und betrifft damit schon im Ansatz die einzelfallbezogene Feststellung und Würdigung des Sachverhalts. Schon deswegen genügt sie nicht den Anforderungen nach § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO. Unabhängig davon beträfe sie allein die Frage, unter welchen Voraussetzungen eine Ermessensreduktion auf Null für das Absehen von der Passpflicht anzunehmen ist, und damit auch aus diesem Grunde keine einzelfallübergreifend klärungsfähige Frage revisiblen Rechts.

12 dd) Ohne Erfolg bleibt die Beschwerde auch hinsichtlich der als rechtsgrundsätzlich aufgeworfenen Frage
"Sperren die §§ 25a und 25b AufenthG die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 bzw. Abs. 3, jeweils in Verbindung mit dem Recht auf Privatleben aus Art. 8 EMRK?"
(S. 7 der Beschwerdebegründung).

13 Das Vorbringen der Beschwerde, eine entsprechende Sperre fände im Gesetz keine Stütze, wird den Darlegungsanforderungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO nicht gerecht, weil es sich insbesondere nicht mit den diesbezüglichen Erwägungen des angefochtenen Urteils substantiiert auseinandersetzt.

14 ee) Eine Zulassung der Revision scheidet ferner im Hinblick auf die Frage
"Sind nur solche Aufenthaltszeiten für die Entstehung eines gem. Art. 8 EMRK geschützten Privatlebens maßgebend, in denen der Aufenthalt rechtmäßig war?"
(S. 8 der Beschwerdebegründung)
aus.

15 Nach dem Vorstehenden käme es in einem Revisionsverfahren in Bezug auf die Kläger zu 2 bis 6 auf diese Frage schon deswegen nicht an, weil der Erteilung eines Aufenthaltstitels - jeweils selbstständig tragend - die Nichterfüllung des Passerfordernisses entgegensteht (s.o. 2. a) cc)). Auch in Bezug auf die Klägerin zu 1 fehlt es wegen der selbstständig tragenden Begründung zur "Sperrwirkung" der §§ 25a und b AufenthG (s.o. 2. a) dd)) an einer hinreichenden Darlegung der Entscheidungserheblichkeit. Ist die vorinstanzliche Entscheidung - wie hier - auf mehrere selbstständig tragende Begründungen gestützt, so kann die Revision nur zugelassen werden, wenn hinsichtlich jeder dieser Begründungen ein Revisionszulassungsgrund aufgezeigt wird und vorliegt (stRspr, vgl. etwa BVerwG, Beschlüsse vom 10. Dezember 2015 - 4 B 53.15 - Rn. 2 m.w.N. und vom 21. Juni 2017 - 4 B 48.16 - juris Rn. 3).

16 ff) Zum Erfolg verhilft der Beschwerde nach dem Vorstehenden schließlich nicht die Frage
"Ist das Dogma, Kinder teilten 'grundsätzlich das Schicksal ihrer Eltern' (...) angesichts der Streichung des deutschen Vorbehalts zur UN-Kinderrechtskonvention und angesichts neuerer Rechtsprechung des EGMR noch haltbar?"
(S. 10 der Beschwerdebegründung)
weil sie in Bezug auf die Kläger zu 2 bis 6 mit Blick darauf schon nicht erheblich ist, dass der Erteilung eines Aufenthaltstitels - jeweils selbstständig tragend - die Nichterfüllung des Passerfordernisses entgegensteht (s.o. 2. a) cc)). Steht aber bereits aus diesem Grund den Klägern zu 2 bis 6 kein Aufenthaltstitel zu, kommt es nicht darauf an, ob das Berufungsgericht die Voraussetzungen des § 25 Abs. 5 AufenthG aus Erwägungen verneint hat, die rechtsgrundsätzlicher Klärung zugängliche Rechtsfragen aufwerfen.

17 b) Die Revision ist auch nicht wegen Divergenz zuzulassen.

18 Eine die Revision gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO eröffnende Divergenz ist nur dann im Sinne des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO hinreichend bezeichnet, wenn die Beschwerde einen inhaltlich bestimmten, die angefochtene Entscheidung tragenden Rechtssatz benennt, mit dem die Vorinstanz einem in der Rechtsprechung eines der in § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO genannten Gerichte aufgestellten ebensolchen, die Entscheidung tragenden Rechtssatz in Anwendung derselben Rechtsvorschrift widersprochen hat. Das Aufzeigen einer fehlerhaften oder unterbliebenen Anwendung der Rechtssätze, die das betreffende Gericht in seiner Rechtsprechung aufgestellt hat, genügt den Zulässigkeitsanforderungen nicht (stRspr, vgl. z.B. BVerwG, Beschluss vom 19. August 1997 - 7 B 261.97 - Buchholz 310 § 133 <n.F.> VwGO Nr. 26 S. 14).

19 Diesen Anforderungen wird die Rüge, das Oberverwaltungsgericht blende in seinen Entscheidungsgründen die Verantwortung des deutschen Staates für die Nachfahren der Überlebenden des nationalsozialistischen Völkermordes aus (S. 14 der Beschwerdebegründung), nicht gerecht. Dem auf Seite 13 f. der Beschwerdebegründung zitierten Auszug aus den Gründen des Urteils des Bundesgerichtshofs vom 18. September 1979 - VI ZR 140/78 - (BGHZ 75, 160 <162 f.>), wörtlich wiedergegeben in dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 13. April 1994 - 1 BvR 23/94 - (BVerfGE 90, 241 <251 f.>) ist schon nicht der Rechtssatz zu einer im vorliegenden Verfahren entscheidungserheblichen Rechtsnorm zu entnehmen, es gehöre zum Selbstverständnis der Bundesrepublik Deutschland, die Nachfahren der Überlebenden des nationalsozialistischen Völkermordes in herausgehobener Art zu achten. Jedenfalls versäumt es die Beschwerde, einen von dem Oberverwaltungsgericht aufgestellten abstrakten Rechtssatz zu bezeichnen, der von jenem Rechtssatz des Bundesverfassungsgerichts abweicht. Stattdessen beanstandet die Beschwerde die fehlerhafte Anwendung des Rechtssatzes des Bundesverfassungsgerichts. Eine solche vermag indes - wie dargelegt - eine Abweichung im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO nicht zu begründen.

20 c) Die Revision ist schließlich nicht gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO wegen eines Verfahrensfehlers zuzulassen. Der geltend gemachte Verfahrensfehler einer Verletzung des Überzeugungsgrundsatzes gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO dadurch, dass das Berufungsgericht in Bezug auf die von ihm angenommene Sprachkundigkeit der Kläger zu 2 bis 6 von einem falschen oder unvollständigen Sachverhalt ausgegangen sei (S. 16 der Beschwerdebegründung) und gegen Denkgesetze verstoßen habe (S. 17 der Beschwerdebegründung), führt bereits wegen der - jeweils - selbstständig tragenden Begründung des Berufungsgerichts, dass bereits die Nichterfüllung der Passpflicht der Erteilung eines Aufenthaltstitels entgegensteht (s.o. 2. a) cc)), mangels Entscheidungserheblichkeit nicht zur Revisionszulassung.

21 3. Von einer weiteren Begründung wird abgesehen (§ 133 Abs. 5 Satz 2 Halbs. 2 VwGO).

22 4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 und § 159 Satz 1 VwGO i.V.m. § 100 Abs. 1 ZPO. Die Festsetzung des Wertes des Streitgegenstandes beruht auf § 47 Abs. 1 und 3 i.V.m. § 52 Abs. 2 VwGO.