Urteil vom 17.12.2003 -
BVerwG 2 A 4.03ECLI:DE:BVerwG:2003:171203U2A4.03.0

  • Zitiervorschlag

    BVerwG, Urteil vom 17.12.2003 - 2 A 4.03 - [ECLI:DE:BVerwG:2003:171203U2A4.03.0]

Urteil

BVerwG 2 A 4.03

In der Verwaltungsstreitsache hat der 2. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 17. Dezember 2003
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. S i l b e r k u h l und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. D a w i n , Dr. K u g e l e , G r o e p p e r und Dr. B a y e r
für Recht erkannt:

  1. Der Rückforderungsbescheid der Beklagten vom 25. Januar 1999 und ihr Widerspruchsbescheid vom 14. Oktober 1999 werden aufgehoben.
  2. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.

I


Der Kläger, zuletzt Regierungsamtsrat der Beklagten, wurde durch Urteil des Landgerichts M. vom 25. April 1995 wegen schwerer räuberischer Erpressung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Jahren verurteilt. Der Bundesgerichtshof verwarf die Revision gegen dieses Urteil mit Beschluss vom 10. Oktober 1995. Zu diesem Zeitpunkt befand sich der Kläger in der Abteilung Vollzugspsychiatrie der Justizvollzugsanstalt S.
Mit Bescheid vom 25. Januar 1999 forderte die Beklagte vom Kläger 12 018,97 DM zurück, die sie ihm im Wesentlichen als Dienstbezüge für die Monate November und Dezember 1995 sowie Januar 1996 gezahlt hatte. Die Klage gegen den Rückforderungsbescheid hat der Senat mit Urteil vom 25. Januar 2001 - BVerwG 2 A 7.99 - abgewiesen.
Mit Beschluss vom 23. Juli 2003 - 2 BvR 624/01 - hat das Bundesverfassungsgericht auf die Verfassungsbeschwerde des Klägers das Urteil aufgehoben und die Sache an das Bundesverwaltungsgericht zurückverwiesen.
Der Kläger beantragt,
den Rückforderungsbescheid der Beklagten vom 25. Januar 1999 und den Widerspruchsbescheid vom 14. Oktober 1999 aufzuheben.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Der Senat hat Beweis erhoben über die Frage, ob der Kläger in dem Zeitraum September 1995 bis Januar 1996 an einer seelischen Störung gelitten hat, die die Möglichkeit grobfahrlässigen Verhaltens ausgeschlossen hat, durch uneidliche Vernehmung der Dr. med. P. D., Ärztin in der Psychiatrischen Abteilung in der Justizvollzugsanstalt S., und des Dr. med. K. P., den Kläger behandelnder Facharzt für Psychiatrie, Psychotherapie und psychosomatische Medizin, als sachverständige Zeugen.
Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die Niederschrift über die Zeugenvernehmung, wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Schriftsätze der Beteiligten verwiesen. Ein Band Verwaltungsakten der Beklagten war Gegenstand der mündlichen Verhandlung; auf seinen Inhalt wird ebenfalls Bezug genommen.

II


Die Klage ist begründet. Der Rückforderungsbescheid der Beklagten vom 25. Januar 1999 und der Widerspruchsbescheid vom 14. Oktober 1999 sind rechtswidrig und verletzen den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Der Mangel des rechtlichen Grundes für die Zahlung der Geldbeträge, die ihm nach der Beendigung seines Beamtenverhältnisses überwiesen worden sind, war nicht so offensichtlich, dass er ihn hätte erkennen müssen.
Nach § 12 Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit Satz 2 BBesG, § 818 Abs. 3, § 819 BGB haftet der Kläger für die Herausgabe der ihm für die Monate November und Dezember 1995 sowie Januar 1996 als Dienstbezüge gezahlten und für die Lebensführung seiner Familie verbrauchten Beträge nur, wenn er den Mangel des rechtlichen Grundes dieser Zahlung kannte oder wenn dieser Mangel für ihn so offensichtlich war, dass er ihn hätte kennen müssen.
Der Kläger wusste in der Zeit zwischen Oktober 1995 und Januar 1996 nicht, dass ihm trotz der Beendigung seines Beamtenverhältnisses durch Eintritt der Rechtskraft seiner Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren noch Dienstbezüge auf sein Konto überwiesen worden waren. Der Kläger befand sich in der fraglichen Zeit in der Justizvollzugsanstalt S. Die Kontoauszüge mit den Angaben über Einzahlungen auf sein Bankkonto wurden an seine Wohnung in T. gesandt. Zwar hatte seine Ehefrau aufgrund ihrer Bevollmächtigung Einblick in die Kontoauszüge. Den Eingang der Gehaltszahlungen für die Monate November und Dezember 1995 und Januar 1996 hat sie dem Kläger aber erst im April 1996 mitgeteilt. In der Zeit davor haben die Eheleute nicht über die finanzielle Lage der Familie im Allgemeinen und über den Verlust des Besoldungsanspruchs des Klägers aufgrund Eintritts der Rechtskraft seiner Verurteilung im Besonderen gesprochen. Der Kläger war wegen seiner psychischen Erkrankung nicht in der Lage, mit seiner Ehefrau ein Gespräch über diese Thematik zu beginnen. Das hat der Kläger bei seiner Anhörung vor dem erkennenden Senat glaubhaft ausgeführt; diese Aussage haben die Dres. D. und P., die der Senat als sachverständige Zeugen gehört hat, bestätigt.
Nach den übereinstimmenden Angaben der beiden sachverständigen Zeugen stand der Kläger zwischen September 1995 und Ende Januar 1996 unter einem starken seelischen Leidensdruck, den der Zeuge Dr. P. als ängstlich-depressive Stimmung mit Neigung zur Psychosomatisierung und die Zeugin Dr. D. als Angstneurose bezeichnet haben.
Die mehrmonatige Behandlung des Klägers mit dem Neuroleptikum Imap in der Dosis von 3 mg hatte dazu geführt, dass der Kläger unfähig geworden war, die finanziellen Konsequenzen aus seiner rechtskräftigen Verurteilung zu einer mehrjährigen Freiheitsstrafe zu durchdenken, sich überhaupt über sie Gedanken zu machen. Dies haben die beiden sachverständigen Zeugen übereinstimmend bekundet. Dr. D. hat ausgeführt, durch die Einnahme von 3 mg Imap habe sich das Denktempo bei dem Kläger verlangsamt. Dr. P. hat bekundet, die kognitiven Funktionen seien bei dem Kläger deutlich reduziert gewesen, in Verbindung mit dem ebenfalls verabreichten Truxal habe das Imap stark sedierend gewirkt. Zwar hat Dr. D. der Einnahme eines Neuroleptikums auch die Wirkung zugesprochen, den Patienten zu befähigen, sich von der Fixierung auf seine Krankheit zu lösen und auf die Realität einzugehen. Als Wirkung speziell bei dem Kläger hat Dr. D. aber - insoweit wieder in Überstimmung mit Dr. P., der auf die möglichen unterschiedlichen Reaktionen der Kranken bei der Einnahme von Imap hingewiesen hat - bei dem Kläger eine Fokussierung auf seine Krankheit, seine Straftaten und die Haftbedingungen diagnostiziert. Dr. D. hält den Kläger, so das Resümee ihrer Einschätzung, aufgrund seines Zustandes, für zur damaligen Zeit außerstande, ohne Anstoß von außen sich Gedanken darüber zu machen, ob nach Rechtskraft des Strafurteils noch Dienstbezüge ausgezahlt worden sind. Sie hat weiter ausgeführt, etwaige Gedanken in dieser Richtung seien von seiner Krankheit verdrängt worden, er habe in einer Welt gelebt, in der Dinge wie der Verlust von Besoldungsansprüchen und Überzahlungen nicht vorkamen.
In der Einschätzung, dass der Kläger nicht in der Lage war, die finanziellen Konsequenzen seiner rechtskräftigen Verurteilung einschließlich nahe liegender Überzahlungen zu bedenken, stimmen beide sachverständigen Zeugen überein.
Der Senat folgt den Bekundungen der sachverständigen Zeugen. Beide Zeugen verfügen als Fachärzte für Psychiatrie über die notwendigen Fachkenntnisse, eine Angstneurose und einen damit verbundenen Realitätsverlust des Kranken zu erkennen. Beide Ärzte haben den Kläger zudem über längere Zeit kennen gelernt und medizinisch betreut.
Aufgrund der Bekundungen der Zeugen ist der Senat der Überzeugung, dass der Kläger nicht in der Lage war, zwischen Oktober 1995 und Januar 1996 die Möglichkeit, dass weiter Dienstbezüge überwiesen wurden, zu bedenken und seiner Ehefrau entsprechende Fragen zu stellen. Dass für die Monate November 1995 bis Januar 1996 noch Dienstbezüge gezahlt wurden, berichtete seine Ehefrau ihm erst bei ihrem Besuch im April 1996. Erst zu diesem Zeitpunkt hatte die Ehefrau Anlass, die Zahlung von Dienstbezügen für diese Monate zu erwähnen. Erst im April 1996, jedenfalls aber nicht vor Ende Januar 1996, hat ihr der Kläger berichtet, dass seine Revision gegen das Strafurteil verworfen und damit seine Verurteilung rechtskräftig geworden war.
Eine verschärfte Haftung des Klägers aufgrund des Wissens seiner Ehefrau in entsprechender Anwendung des § 166 Abs. 1 BGB (vgl. BGH, Urteil vom 25. März 1982
- VII ZR 60/81 - BGHZ 83, 293) scheidet aus, weil die Ehefrau zwischen November 1995 und Januar 1996 mangels Kenntnis von der Beendigung des Beamtenverhältnisses ihres Mannes die Rechtsgrundlosigkeit der eingegangenen Zahlungen selbst weder kannte noch grob fahrlässig nicht kannte. Eine "Zusammenrechnung" ihres Wissens, dass Dienstbezüge gezahlt worden sind, mit dem Wissen des Klägers, dass ihm Besoldung nicht mehr zustand, ist nicht möglich. Die zivilgerichtliche Rechtsprechung hat eine Zusammenrechnung des Wissens zugelassen bei am Rechtsverkehr teilnehmenden juristischen Personen und sonstigen Organisationen, bei denen aufgrund einer internen Arbeitsteilung typischerweise Wissen bei verschiedenen Personen oder Abteilungen "aufgespalten" ist. Gegenstand der Zurechnung durch Wissenszusammenrechnung sind nach dieser Rechtsprechung zudem Informationen, die typischerweise aktenmäßig festgehalten werden und deren Verfügbarkeit als des bei der Organisation vorhandenen Wissens für deren Vertreter und vertretungsberechtigte Organe entsprechend den Verkehrsanforderungen so organisiert sein muss, dass auf sie jederzeit zurückgegriffen werden kann (BGH, Urteil vom 2. Februar 1996 - V ZR 239/94 - BGHZ 132, 30). Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt, wenn in Fällen der rechtsgrundlosen Überzahlung von Dienstbezügen an einen in Strafhaft befindlichen ehemaligen Beamten die zur Verwaltung des Bankkontos des Beamten bevollmächtigte Ehefrau von dem Zahlungseingang und der Beamte von dem Fehlen eines Rechtsgrundes für diese - ihm als solche nicht bekannten - Zahlungen weiß.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.